Arbeitsproben (3)
BAROCKER ZUNGENSCHLAG
Des Mutterkuchens Süße - längst gegessen.
Nur eine Frage tut noch weh:
Wer sind wir denn? Besessen
Von barocken Wonnen geh
– Soufflier ich mir – die Antwort etwa so:
Ein schleichend Fieber sind wir, das man sich verhehlt,
Der schlechte Teil von allem, was uns fehlt,
Ein Abschaum alter Schmerzen, Ein Frikassee aus Schleim und Wind,
Ein Sud von Rotz und Regen,
Ein Sack voll Schorf und Grind,
Beißender Einlauf, zäher Speichelfluß, der Herzen
Abtritt, Grube aller Sinne, wegen
Nichts entflammt, entstellt und abgebrüht
Am End, im eigenen Schweiß gegoren,
Halb roh, halb gar, bedroht, bemüht
Und ganz umsonst geboren.
ALS OB
'Als ob', 'als wär', '
Es ist als hätt' –
Ich flöge heim
Und fände Ruh.
Im tiefsten Wiesengrunde,
Da läg ich warm und weich und gut.
Kaum spürbar noch im Munde
Ein letzter Bodensatz von Blut,
Und dann auch das vorbei:
Es bliebe mir vom Leben
Die Spur des Vogels in der Luft.
Ganz überwachsen möcht ich liegen,
In Hahnenklee und Mägdelieb,
Der Schönheit ganz ergeben,
In Knabenkraut, in wildem Wein,
In Männertreu und Frauenlob.
Ich fände Ruh
'Als wär', 'als ob',
Wär endlich da,
'Es ist als hätt' –
Ich wär wer
Weiß wie tief
Im tiefsten aller Gründe,
Im tiefsten Konjunktiv.
AUFGEHEN
UNGLAUBLICH: VOGELLEICHT
Und wach, die Neugier
Junger Katzen im Gesicht, die
Augen auf dem Sprung, auf
Regelloses Glücksgestöber aus, scharf
Auf den unbekannten kleinen Tod,
Vom Hirn bis zu den Sohlen
Ein feiner Film aus
LUSTUNDSPOTTUNDANGSTUNDLUSTUND:
Hand unter Fuß,
Kopf über Hand
Für den Moment
Wer weiß,
Wer wer ist
Und wie lang:
Schon ohne Atem,
ganz am End, scham-
los mit Haut und Schaum
Und Haar und Jubel,
Die Augen ganz woanders,
Schlitze nur.
Schluchzen im Hals
Und Nässe auf der Stirn –
Ein Fest,
Das aufgeht wie
Der blaue Stern,
Vom Mond gesehn,
Und ohne Rest.
Vita
Geboren am 30. Januar 1944 in Braunsberg. Studium in München, Münster und Zürich, Promotion über Robert Walser 1972 ("Die Krise der Darstellbarkeit"), 1980 Habilitation mit einer kunstsoziologischen Arbeit ("Moderne und Mimesis"), Arbeit als Hochschullehrer bis Ende 2000 in Münster. Seit 1981 Regiearbeit (u.a. Borchert Theater Münster und Transittheater Münster), zuletzt: "Jakob von Gunten" von Robert Walser (Münster), "Erklärt Pereira" von Antonio Tabucchi (Köln). Martin Jürgens lebt in Münster.
Prosa
Seine Kunst zu zögern. Elf Versuche über Robert Walser. Oktober Verlag: Münster 2006.
So. Über das Leben, die Kunst und den Tod. Oktober-Verlag: Münster 2002.
Lyrik
Fortgang. Gedichte. Maistrassenpresse: München 1966.
Funk
Hörfunk: In den 60er Jahren 2 Hörspiele. Radio Bremen.
Sachbuch
Moderne und Mimesis. Vorschlag für eine Theorie der modernen Kunst. LIT: Münster 1988.
Robert Walser. Die Krise der Darstellbarkeit. Scriptor: Kronberg/Ts. 1973.
Anthologie
Auswahl:
Gespräch mit Bleistift und Papier. In: Westfalenspiegel 1/1998.
Ästhetik und Gewalt. Gütersloh 1970.
Prosa, Lyrik, Feuilletonbeiträge in der Frankfurter Rundschau.
Herausgeberschaften
Kunst und Kultur des demokratischen Chile. Atelier im Bauernhaus: Fischerhude 1977 (mit T. Metscher).
Robert Walser: Das Gesamtwerk. Bd. 12,1: Entwürfe. Verschiedene Schriften. Kossodo: Genf, Hamburg 1972 (Mitarbeit).
Sonstige Veröffentlichungen
Übersetzung:
Ho Tschi Minh: Gefängnistagebuch. dtv: München 1970 (Mitarbeit).
Über Werk und Autor*in
Lexikoneinträge:
Westfälisches Autorenlexikon. Hrsg. von Walter Gödden, Iris Nölle-Hornkamp. Bd. 4: 1900 bis 1950. Paderborn 2002.
Wilhelm Kosch: Deutsches Literaturlexikon. 3., völlig neu bearb. Aufl. Siegmar Hohl, Carl Ludwig Lang (Hg.). Bd. 8. Bern, München 1981.
Quellenangabe
Eigenrecherche, Lexikon, Westfälisches Autorenlexikon. Hrsg. von Walter Gödden, Iris Nölle-Hornkamp. Bd. 4: 1900 bis 1950. Schöningh: Paderborn 2002.