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Gina Mayer


Gina Mayer © Sibylle Pietrek
Gina Mayer
1965
Ellwangen an der Jagst
Düsseldorf
Düsseldorf
Rheinschiene, Rheinland komplett
Prosa, Kinder-/Jugendbuch
c/o Literaturagentur Birgit Arteaga
Eisvogelweg 3a
81827 München
089-45456577

Arbeitsproben (1)

 

Aus: DIE FLUCHT

Er wusste nicht, was ihn antrieb. Es war ein Gefühl wie Hunger. Aber er war nicht hungrig, obwohl er seit Tagen nichts mehr gegessen hatte. Er trank auch nur sehr wenig, hin und wieder leckte er ein paar Tropfen Wasser von einer Felswand oder aus einer Pfütze.
Es war nicht die Zeit zu trinken.
Er musste weiter, es ging um sein Leben, das wusste er immerhin. Auch wenn er die Gefahr, die ihn bedrohte, nicht kannte. Sie war hinter ihm, aber er drehte sich nicht nach ihr um. Er war fast blind. Was immer es war, das ihn bedrohte, er hätte es ohnehin nicht gesehen.
Er musste fliehen. Seine Zähne waren abgekaut, die Jahre hatten sie zu kleinen, halbrunden Stümpfen geschliffen. Er lebte von Schnecken, Larven, Erdwürmern. Er konnte sich nicht verteidigen. Gegen keinen Vogel und gegen kein Raubtier. Schon gar nicht gegen das, was ihn verfolgte.
Unter der Erde bahnte er sich einen Weg, seine muskulösen Vorderbeine mit den schaufelartigen Pfoten gruben einen Gang direkt unter der Oberfläche, wo die Erde am wenigsten verdichtet war. Seine spitze Schnauze stieß in die Dunkelheit des Ganges, der sich mit ihm voranschob. Wohin führte der Gang? Er wusste es nicht, er kannte sein Ziel nicht. Er kannte nur die Richtung.
Er war einer von vielen. Eine große Zahl an Insekten, Eidechsen, Schlangen, Mäusen und Ratten nutzte den Gang, den er grub. Sie folgten ihm, als wäre er ihr Führer.
Sie waren nicht die einzigen, die flohen. Auch über der Erde war alles in Bewegung. Manchmal hörte er ein Klopfen, ein Poltern, ein Hämmern. Das Trippeln und Trampeln von Füßen, das Getrappel von Hufen. Es klang wie ferner Donner. Hoch oben in der Luft schwirrten die Bienen, flatterten die Schmetterlinge, flogen die Vögel. Aber davon wusste er nichts.
Neben seiner Nase gruben sich Würmer durch den Lehm. Er fraß sie nicht, genauso wenig wie die Eidechsen die Insekten fraßen oder die Schlangen die Mäuse.
Sie mussten weiter, sie mussten weg. Vor Tagen hatte es angefangen zu regnen. Der Boden war weich und nass, das war gut, es erleichterte das Graben. Aber inzwischen drang immer mehr Wasser durch die Erdoberfläche in den Gang. Manchmal überschüttete ihn ein ganzer Schwall, schwemmte ihn fast weg. Hinter ihm ertranken die Insekten. Eine Maus quiekte. Dann war auch sie tot.
Die Angst trieb ihn voran. Nicht nur seine eigene Angst, sondern auch die der anderen, die hinter ihm oder über ihm flohen. Die Ängste der einzelnen potenzierten sich zu einer Panik.
Er grub noch angestrengter. Sieben, acht Meter in einer Stunde, noch nie zuvor war er so schnell vorangekommen. Er verstand nichts von dem, was geschah. Er wusste jedoch, dass einige von ihnen errettet werden würden, der große Rest müsste sterben. Es war, als hätte jemand diese Gewissheit in ihn hineingelegt.
Er wollte gerettet werden. Er wollte leben. Dieser Wille trieb ihn voran.
Die Erde vibrierte von den galoppierenden Tieren über ihm. Wie schnell sie sich bewegten. Wie langsam er selbst war. Ob es auf die Geschwindigkeit ankam? Oder auf etwas anderes? Wer von ihnen würde ausgewählt werden?
Er wusste die Antwort nicht. Sie lag vor ihm. Er musste sie erreichen.
Hinter ihm lag sein Leben, das bis jetzt in kreisförmigen Bewegungen verlaufen war. Seine Gänge kannten keine Richtung, sie gruben sich in Spiralen und Schlangenlinien tief und tiefer in die Erde hinein. Nur einmal im Jahr, kurz vor dem Winter, ging er über seine eigenen Grenzen hinaus. Er grub so lange geradeaus, bis er auf ein Weibchen stieß, das er dann mit in sein Revier nahm. Zusammen begaben sie sich in die tiefste Tiefe seines Reiches, dorthin, wo die Erde niemals gefror. Sie blieben beieinander, bis im Frühjahr die Erde auftaute und die Jungen zur Welt kamen. Dann überließ er ihr das Revier und grub an einer anderen Stelle neue Gänge – unter der Oberfläche, und in Kreisen, in Spiralen und Schlangenlinien in die Erde hinein.
Er war ein reines, unbeflecktes Wesen. Er hatte niemals Schuld auf sich geladen, denn er kannte keine Schuld. Was er tat, musste er tun. Jetzt musste er fliehen.
Er spürte, dass er seinem Ziel ganz nah war, und das Ziel war über der Erde, er musste nach oben. Er stieß eine Öffnung in die Erdoberfläche. Ein Schwall Wasser schoss ihm entgegen und warf ihn um, er stürzte auf die Insekten, Eidechsen, Schlangen, Mäuse und Ratten, und sie alle wurden weggeschwemmt. Die Flut schoss durch seinen Gang und riss ihn auf, Meter um Meter, er konnte nicht atmen, er konnte nicht schwimmen, das Wasser schlug über ihm zusammen.
Viele von ihnen ertranken und sanken zu Boden. Die anderen wurden von einem Sog ergriffen und in einem Strudel nach oben getragen.
Als er wieder zu sich kam, lag er auf einem Felsvorsprung. Unter ihm toste das Meer. Ein gewaltiges, unendliches Meer, das die ganze Erde überschwemmt hatte, von einem Ende bis zum anderen. Nur einige Felsen ragten noch aus den wilden Wellen, und an den Felsen klebten wie Moos und Flechten die Kreaturen Gottes. Er sah Murmeltiere und Gazellen, Pfauen, Erdmännchen, Gürteltiere, Leguane, Pinguine, Schildkröten und auch einige Menschen. Die Geschöpfe klammerten sich an den Felsen und aneinander, manchmal rutschte einer ab und verschwand in den Fluten.
Trotz aller Enge versuchte keiner den anderen wegzustoßen. Wer gerettet werden würde, würde gerettet werden. Sie hatten keinerlei Einfluss auf den Ausgang der Sache.
In der Ferne sah er ein riesiges Schiff, ein Schiff, groß wie die Welt, das langsam auf sie zukam. Ein Schiff, das ihnen allen Platz bot. Das sie aufnehmen und retten würde. Er sah das Schiff, und die anderen Tiere und die Menschen sahen es ebenfalls. Sie reckten ihre Hälse und Fühler nach ihm, sie flatterten mit den Flügeln, sie streckten sehnsüchtig die Arme aus.
Und dann erkannte er es. Das Schiff, das sie alle retten sollte, lag tief im Wasser. Es war bis an den Rand gefüllt. Eng an eng drängten sich an Deck alle Arten des Viehs und die Kriechtiere, die sich auf der Erde regten, und alle Arten der Vögel und des fliegenden Getiers. Eine Handvoll Menschen stand oben an der Reling.
Da war kein Platz mehr auf dem Schiff.
Und es kam auch nicht auf sie zu, es fuhr von ihnen weg.
Wer gerettet werden sollte, würde gerettet werden, aber sie gehörten nicht dazu.
Er würde auch niemals erfahren, warum die anderen ausgewählt wurden und er nicht.
Wenn es einen Sinn gab, dann würde er ihn nie verstehen.


Die Autorin studierte Grafik-Design und arbeitete lange als Werbetexterin, bevor sie Schriftstellerin wurde. Sie schreibt historische Romane, Kinder- und Jugendbücher. Viele ihrer Bücher spielen in ihrer Wahlheimat Düsseldorf oder in der näheren Umgebung. Sie lebt mit ihrem Mann in Düsseldorf.

2015: Arbeitsstipendium Literatur des Landes Nordrhein-Westfalen.
2012: Arbeitsstipendium Literatur der Stadt Düsseldorf.

Historische Romane:
Leonore und ihre Töchter. Aufbau: Berlin 2014.
Das Maikäfermädchen. Aufbau: Berlin 2012.
Das Lied meiner Schwester. Aufbau: Berlin 2010.
Zitronen im Mondschein. Aufbau: Berlin 2009.
Das Medaillon. Diana: München 2007.
Die Protestantin. Diana: München 2006

Theo und Oleander und der unsichtbare Mops. Ueberreuther: Berlin 2015.
Der magische Blumenladen. Kinderbuchserie. Ravensburger: Ravensburg 2015.
Verliebt in Amsterdam. Jugendbuch. Ravensburger: Ravensburg 2015.
Die Schattenbande, Kinderkrimiserie (5 Teile). Ars Edition: München 2014/15.
How to catch a star. Jugendbuch. Ravensburger: Ravensburg 2014.
Küssen auf Amerikanisch. Jugendbuch. Ravensburger: Ravensburg 2013.
Morgen wirst du sterben. Jugendkrimi. Ravensburger: Ravensburg 2013.
Die Wildnis in mir. Historischer Jugendroman. Thienemann: Stuttgart 2011.
Die verlorenen Schuhe. Historischer Jugendroman. Thienemann: Stuttgart 2009.
Mörderkind. Jugendkrimi, ab 14. Ravensburger: Ravensburg Herbst 2009.
Die falsche Schwester. Historischer Jugendkrimi, ab 14. Sauerländer: Düsseldorf 2008.
Schattenjünger. Jugendkrimi, ab 12. Sauerländer: Düsseldorf 2007.
Das Mädchen ohne Gedächtnis. Jugendkrimi, ab 12. Sauerländer: Düsseldorf 2006.
Mörderkind. Jugendkrimi, ab 14. Ravensburger: Ravensburg Herbst 2009.
Die Mädchen von der Pferderanch. Dreiteilige Mini-Krimiserie, ab 9. Ravensburger: Ravensburg 2009.
Die falsche Schwester. Historischer Jugendkrimi, ab 14. Sauerländer: Düsseldorf 2008.
Schattenjünger. Jugendkrimi, ab 12. Sauerländer: Düsseldorf 2007.
Das Mädchen ohne Gedächtnis. Jugendkrimi, ab 12. Sauerländer: Düsseldorf 2006.

Schreiben ist mein Beruf. Ich wandere von einem Zeitalter ins andere, von einem Thema zum nächsten, von Buch zu Buch. Und immer nur wohin ich will. Ich lese und erfinde und lerne und wachse. Das ist mein Leben.

Auskunft Autorin, Eigenrecherche

Aktualisiert 04.07.2021