Arbeitsproben (7)
DIE BILDUNGSREFORM VERPASSEN, HEISST SCHEITERN
... Oft scheint mir, dass junge Leute auf Klischees fixiert sind, auf das, was später den Kick, mehr Kohle oder zumindest viel Freizeit verspricht. Da setzen auch wir Älteren kaum Bremsen. Oft in der Vermutung, dass imageträchtige Berufe aus alten Tagen auch in Zukunft en vogue sein könnten. Ach, würde der Junior doch Arzt, Anwalt, Richter, Germanist, Hochschulprofessor oder Architekt, lamentieren wir und wissen nicht, dass wir arg vorbeistöhnen. Denn es sind die anderen, die Techniker, die Lehrer und Wissenschaftler, die unsere Zukunft maßgeblich gestalten werden. Warum viele Aspiranten diese Sparten "unter Wert handeln", wurde oben z. T. begründet. Offenbar machen es auch Begriffe schwierig, jene Aufbruchstimmung zu erzeugen, die imageträchtigen Berufen innewohnen. An den Verdienstmöglichkeiten dürfte es nicht liegen. Nano-Techniker, Quantenwissenschaftler, Echtzeitführungskräfte, Wissensmanagementberater, Gentechniker, Anti-Hacker – um nur einige Zukunftsberufe anzuführen – dürften in Kürze genauso viel oder mehr Geld verdienen als traditionelle Ärzte oder Anwälte. Vermutlich sind es die pragmatische Aura, die dröge erscheinende Welt der Werk-stoffe und die bedrohliche Gegenwart undurchschaubarer Mechanismen und Maschinen, die hier abstoßen. All das scheint mit dem wirklichen Leben, der Kunst und Geisteswissenschaft zu wenig "verbandelt", um frisch und attraktiv zu wirken. Die Zukunft allerdings fragt wenig nach solchen Vorlieben. Sie fordert nachhaltige Bauwerke, erneuerbare Energien, Sicherheitssysteme, ökologische Quantensprünge und Substitute für ausgehende Rohstoffe. Wer bitte soll die hier anstehenden Aufgaben lösen? ... Wenn wir künftig das gewaltige Defizit an Ingenieuren abbauen und junge Leute für wissenschaftlichtechnische Zukunftsaufgaben begeistern wollen, dann müssen wir radikal umdenken – diesen Schwenk aber nicht allein den jungen Leuten überlassen, sondern selbst "in die Pedalen steigen". Und das heißt viel, heißt die Lerninhalte an den Schulen verändern und vor allem: Anreize schaffen.
Gleichzeitig muss das Diktat von "schickem Wissen" (wo liegt noch Sokrates begraben?) und geisteswissenschaftlicher Dominanz gebrochen werden. Dabei gilt es nicht wegzuspülen, sondern maßvoll zu erhalten und neu zu ordnen. Denn wir brauchen keineswegs die "Zwangsbewirtschaftung" des Wissens, sondern nur bessere Wichtung und Darstellung. Einmal weniger Vergil zitieren, dafür mitempfinden können, wenn der Bio-Nano-Techniker dem Krebs zu Leibe rückt ...
Aus: Störfall Zukunft. Schlussfolgerungen für einen möglichen Anfang. Erzählerisch aufgemachtes Sachbuch. Heiner Labonde: Grevenbroich 2008.
ERÖFFNUNGSBILD
Das Wort "Eröffnungsbild" stand für den ersten Marschblock des Demonstrationszuges – eines über Stunden wabernden, aber dennoch statischen Gebildes von Menschen, die durch Zaunelemente in eine Art Pferch verbannt waren. Getrennt standen sie vor sich hin - jenseits der übrigen Kundgebungsteilnehmer und jenseits der Prominententribüne.
Wieder dieses dumpfe Gefühl, das empor kriecht und die Seele verklebt. Demo heißt das - oder Willensbekundung mit Schizo-Willen. Es ist 1.Mai – ein Tag, der mit Menschentrauben beginnt, Pressionen erzeugt und im Wein endet.
Jede Einzeltraube steuert - man mag es nicht glauben - dasselbe Ziel an – einen Platz, eine Straße, ein markantes Zeichen im Zentrum. Und es ist witzig, dass zu jedem dieser Punkte etwas Bildhaftes gehört, ein Transparent etwa, ein Blauhemd mit Nelke, ein Wink-Element.
Wir müssen zur Bersarinstraße, sagt die kleine Frau, die neben mir steht, und sie schwenkt einen Zettel, von dem sie sagt, daß ihr Chef ihn verteilt habe. Ich erfahre so gut wie nichts über diesen Chef, und doch scheint klar, dass er aussieht wie Rolf Poland. Zumindest hat er dessen Bewegungen am Leibe, dessen salbungsvolle rülpsfreie Grabesstimme, eben jene Artikulation, die zum Vor-spiel dieses Tages gehört. Zustimmung heißt das. Oder Geschlossenheit. Oder vorauseilendes Beifallen vor ERICH. Beigemischt ist dieser Wisch, ergänzt um das harsche Wort PFLICHT, dieses Wort, das dann doch sein muß, weil allzu großherziges Gebaren ....Nun, wir wissen das, und wir ahnen auch, dass die Pflicht dahin führt, wo das Handzettel-Innere sie festmacht. Einmal aufgefaltet, heißt sie: Karl-Marx-Allee.
Die Zeiten für Bockwurst gratis sind vorbei. Beschleuniger dieser Art kosten Geld, und Geld ist knapp bei ERICH. Manch einer ist enttäuscht und versucht sich zu drücken. Versteht doch, Genossen, die Datsche .... Da ist ein Vorgarten zu verzwergen, und ... Ganz hinten spricht jemand vom 19. Januar. Bereits damals sei er gewaltig umhermarschiert. Verachtungsvolle Blicke von allen Seiten. Ob er denn die Revolution aufrechnen wolle, fragt der Chef, und tatsächlich dürfen nur die, die es wirklich weit haben, zu Hause bleiben. Doch auch das stinkt nach Verrat. Wie auch konnte es ein dosiertes Bekenntnis geben?
Die Menge hat sich zu einem kompakten Etwas entwickelt. Dicht bei dicht klammern die Menschlein an den Treppengeländern, stocken, pressen ihre Körper an ein Gegenüber und streben vorwärts. Am Alex sind die Knäuel
unentwirrbar geworden. Transparente wanken, Fahnen proben ihr erstes Abwinken. Und dennoch bewegt sich alles, verteilt sich und stürzt in die Quergassen.
Im Gewirr sehe ich Schneider. Er schiebt sich, die Hand aufs Gemächt gepresst, an Konopkes Kiosk vorbei. Gar nicht maimäßig sein Gesicht, ein wenig verkrampft, der alte Kämpfer, die Kinnladen auf Sturm geschaltet, und sein Haar - ja es will wohl vom Kopf. Irgendwann sieht er mich, lacht wie ein ertappter Pinkler, rudert dann und hangelt in meine Richtung. Als er da ist, will er die Pause, lehnt schweißtriefend am Geländer und gibt mir die Hand. Na, tönt er mit verkorkster Stimme, auch wieder demontieren? Sicher sage ich, weil mir nichts einfällt auf die blöde Frage, und er nickt, als verstünde er einen falschen Kehrreim.
Los geht’s, brüllt jemand neben mir, der nicht weiterkommt, stößt mir unsanft in die Rippen und hangelt auf das nächste Hindernis zu. Schneider, der Kraft geschöpft hat, drängt auf Weiterlaufen, und so wälzen wir uns, treppab und treppauf in Richtung Straße. Oben sind wir erneut eingekeilt, müssen einem Strom folgen, der nicht unser Strom ist. Umkehren! ruft Schneider. Aber wie denn? schreie ich zurück. Und schon ist er weg.
Ich schiebe mich durch die Viererreihen, die jetzt noch fester gefügt sind. Da ist ein Strudel, da ist ein Kreisel, der anders verteilt. Neue Gewalten, ein schreiendes Kind, dem die Mutter die Flasche verkehrt rum..., ein Hund, der wütend am Maulkorb fleischt. Dann, zur Unzeit, der Ballonverkäufer, ein Mann, der es wirklich schwer hat, dem es knallt und abpfeift. Doch er lacht, dieser Mann, ist sichtlich jenseits der Verluste, die niemand wahrnimmt. Greift nur unentwegt zu den Strippen, zu den Farbschlangen, die aufwollen und dann abdriften.
Irgendwann finde ich eine Lücke, tatsächlich etwas Raum, der unverstellt ist. Und ich laufe, was das Zeug hält, stürme einfach nach vorn. Ein Schild baut sich auf, ein verholztes Plakat, auf dem Marschsäule 2 steht. Doch die Richtungspfeile sind abgebrochen. Jemand hat sie niedergerannt. Ein Provokateur, ein achtloser Rempler? Niemand weiß das, niemand ahnt, was der volkseigene Schildermaler jetzt dächte. Warum auch?
Irgendwo links taucht das gelbe Hochhaus auf. Ein Klotz, der wie andere im Umfeld das Bild zugießt. Dieser aber ist gelb, und weil er gelb ist, ist er mein Klotz, mein Fluchtpunktpunkt, verdammter, und ich muss sehen, dass ich dort lande. Weiterkraulen heißt das, sich erneut dem geliebten Volk an die Brust werfen, eintauchen heißt das, aufgehen in tausend neuen Gesichtern, sandkörnig an einem Strand, der kein Meer kennt.
Wieder treffe ich auf einen Pulk Ratloser. Diesmal dreht er sich mit Rechtsruck. Na wenn schon. Plötzlich, als das Haus ganz dicht ist, weiß ich, wie es heißt: Hochhaus an der Weberwiese. Was für ein Name! Gras zwischen den Gehwegplatten. Und Weber. Wer ist Weber ?
Nach hundert Metern bin ich erneut eingekeilt. Jetzt aber gibt es Ordner - Leute mit Armbinden und wichtigen Gesichtern. Dazwischen Männer in Kampfgruppenuniformen, die freundlich befehlen. Nach rechts, ruft einer, nach rechts!
Da ich nach links muß, werde ich angerempelt. Nach rechts! brüllt nun auch mein Nachbar, bist Du blöd?
Hier hilft nur "taub stellen", dann ein schneller, rücksichtloser Stoß gegen die Fahne zu meiner Linken, ein harsches Nachfassen, weil die Fahne zu stürzen beginnt, ein Sprung in die Lücke aufkommender Empörung, ein leichter Schrei, der urplötzlich eine schmale Schneise frei schlägt. Dann bin ich draußen. Nicht wirklich draußen, nur einen winzigen Augenblick lang im Auge des Hurrikan, denn das, was sich weiter links tut, ist ebenfalls dicht.
Sagen Sie, frage ich einen der Ordner, wie komme ich zum Eröffnungsbild? Der Mann, den ich anspreche, ist mittleren Alters und hochgewachsen. Er mustert mich gründlich.
Zum Eröffnungsbild? Haben sie eine Karte?
Sicher, sage ich.
Zeigen!
Ich ziehe das grüne Etwas, das ich vorsorglich in meine Hemdentasche gesteckt hatte, hervor und gebe es ihm.
Gut, sagt der Ordner. Sie müssen nach links. Am Kaffee "Moskau" ist ein Durchlaß.
Und fast übergangslos brüllt er in die Menge:
Machen Sie den Weg frei!
Irgendwen muss das Kommando erschrecken. Denn urplötzlich gibt es eine Lücke, ein Loch, in dem ich verschwinden und mich voranhangeln kann. Und dann dauert es nur Sekunden, bis ich den Durchlass finde. Es ist eine einfache Öffnung zwischen zusammengeschweißten Zaunfeldern. Einen Moment lang stutze ich, kann nicht glauben, daß ich da durch soll, folge dann aber doch dem ausgetretenen Pfad, muss das Billet ein zweites Mal herreichen und bin drin.
Vor mir auf der Tribüne ...
ERICH
TANGO
Und wieder gehen sie in Stellung. Sie, die schlanke Mittvierzigerin, im schwarzen, fransenbestückten Kleid mit Spaghettiträgern – die Handschuhe bis zu den Ellenbogen. Er, etwas jünger, mit schwarzer Hose, Fliege und weißem Blazer. Das alles über schwarzen Schuhen, die wie Speckschwarten glänzen, und ich ahne es schon, Falten abweisen.
Tango ... tangere oder tamgu. Niemand weiß so recht, was es damit auf sich hat. Die Berührung, sie liegt nahe, und wenn sich aus dem schwarzen Kontinent so etwas wie tamgu = Tanzen aufdrängt: warum nicht? Die ohren- und sinnestürzenden Sequenzen verdienten es allemal, mehrspurig zu geistern. Sich hinzugeben, sich einspinnen und versinnen zu lassen. Das allein sollte es sein. Nicht aber dieser sinnlose Streit um die Wurzeln, denen, man weiß es doch längst, Weltenbäume entwuchsen.
An all das denken die beiden nicht, wenn sie jetzt die Tanzfläche betreten - gravitätisch und nur einmal mit diesem lasziven Lächeln auf den Lippen. Der Tänzer, er nickt ein wenig, offenbar, weil er will, dass die Musik jetzt einsetzt. Und tatsächlich: Es gibt Bewegung. Der bärtige Mann am Instrument, eben noch diffus und unförmig vor sich hin schlafend, dieser Mann springt auf. Und kaum, dass er steht - ja, man fragt sich, wie er das so schnell einbringt - schickt er einen ersten anhaltenden Ton in den Saal, einen Ton, der die Menschen festnagelt und den Wein, gerade noch üppig fließend, an den Flaschenwandungen festhält.
Di da die du da dumm damm dumm dumm, di da die du da dumm damm dumm dumm jauchzt und taktet das Ding in den Händen des Musikers, eines Menschen, dessen Finger aus dem Nichts aufspringen und wie Spürhunde über zahllose Knöpfe rasen, Knöpfe, die ich nie treffen würde, es sei denn, man schleuste mich über Trichter in diese Wüste. Nichts davon bei Carlos. Carlos ist ein Wunder, ein Klangkünstler, ein Mensch mit hageren Fingern, die seinem Kopf folgen wie Kolibrischnäbel den Nektar-Tropfen.
Lang gezogen und in jähem Wechsel ersteht sie, die Melodie, macht diesen Platz zur Bühne, die betanzt sein möchte, in der selbst Greise jenes Zucken verspüren, das die Gliedmaßen hochreißt. Kein Bein, das an diesem Abend still stehen, kein Körper, der nicht mit fiebern und teilnehmen wollte am großen Wehklagen. Wütende Frauen schwören Rache, einsame Männer spü-ren ihre Ohnmacht. Wut tut sich auf und Leidenschaft, sekundiert von Absturz. TANGO - so und nicht anders rast er, macht nieder, was sich ihm in den Weg stellt. Und das Bandoneon: Es lässt keinen Raum für Gedanken. Allenfalls dieser Nothalt bleibt uns, diese wiederkehrende Pause, dann, wenn der Balg sich ausbalgt und den endlosen Zug tot macht. Hier und nur hier wäre er möglich, der Gedächtnisblitz. Wir aber sind auf anderes fixiert, wollen feststellen, dass im Tonlos ein Wunder passiert, dass das Paar Laute erzeugt, ein Rauschen vielleicht, ausgeschickt von der beinumspülenden Schlitzseide, ein Leder-Holz-Gleiten der Füße, wo immer sie den Boden berühren. Und wir hoffen auf Stöhnen und leises Lachen.
Vergeblich. Unertappt geraten die beiden ins Licht, in den Kegel des Scheinwerfers, der gnadenlos zugreift. Jetzt erst vermag ich Angestrengtheit zu erkennen, winzige Schweißperlen auf den Stirnen, Schweißperlen, die ihr Abtropfen fürchten, noch aber nur jenes Glänzen erzeugen, das Farben und Mimik so spenstern lässt.
Dieser Hüftschwung, jener Ausfallschritt, das abrupte Kreisen. Nichts - so scheint es - ist symbiotischer, nichts vergleichbar synchron wie diese Bindung. Gefesselte Gestalten, in Hüllen versteckt - in Formen gepackte Tanzblasen. Emotionslos und unaufgeregt schweben sie trotz der Schwüle.
Links der Bandoneonspieler. Jetzt blickt er um sich. Er hat den Balg aufs letzte Falten fixiert, lässt ausblasen, was an Luft raus will. Und dieser Seufzer vor dem Wechsel, er schießt in den Raum wie ein Marker. Kaum zu verfehlen dieses plötzliche AUS. Und dennoch: Es bleibt vakant. So zumindest fühlen wir, und so irren wir auch. Denn nichts geschieht ohne Fühlung. Beine, Arme und Körper - sie fliegen. Sie fallen hinein in dieses unbestimmte Stück Zeit, und die Finger des Solisten, sie stoßen erneut zu, malträtieren die Knöpfe, und der Balg, dieser Balg schöpft Luft. Ja, er schlürft sie begierig und wirbelt, ja, er saugt sie bis prall. Dann aber, schlagartig, macht er zu, narrt sie, die Luft, spült sie in einem, wie es scheint, sinnlosen Hin und Her durchs Leder. Bis ..., ja bis sie bereit ist, ihn herzugeben: diesen endlosen Brustbalgton, dieses Tango-C, das nie aufhört – es sei denn, wir verweigern das Hören.
Auf dem Parkett die Entsprechung: Nicht das Luftsaugende und Luftlose, wohl aber das Atmen und Atemlose. Auch die abwechselnd schnellen und verhaltenen Sequenzen, das Aufeinanderzu, gepaart mit Distanzen. Und jetzt, da die Arme wie Zugstangen arbeiten, dieses unbeschreibliche Zueinader und offensichtliche, im Grunde doch unmögliche Ineinander, dieses Greifen und Andocken der bemühten Leiber. Kein Zweifel, dass sich jetzt Assoziationen frei schießen, billige Anzüglichkeiten, die den Schweiß treiben. Doch die Tänzer wissen um die Gefahr, spüren um die plötzliche Schwelle. Und – ich bin sicher - sie werden sie meistern. Denn Überschreitung, zumindest hier auf dem Parkett - sie wäre der Tod. Nun, die beiden vermeiden das, erstarren vielmehr wie Schaufensterpuppen, Figuren, denen man antut, was immer man will und die doch bleiben, was das biegsame Innere vorgibt.
Schweigen und Erwartung. Wieder ist es die aufkommende Tonfolge des da capo, unaufdringlich und doch zwingend gepaart mit dem Rhythmus. Sie ist es, die den Bann bricht, dieses zweite, dieses dritte Umschlingen auslöst, so ein Einrollen und Einschweißen – wie man meint und doch keineswegs sicher ausmachen kann. Wie schmiegsam ist Fleisch, will ich fragen - und wie spannend sind Muskeln und Sehnen.
Der Tänzer ist schnell, er ist leicht und geschmeidig, und er zwingt die Gespielin, dieses Jojo, das jetzt Abstand gewinnt, ja zu stürzen droht und dennoch den Kopf wirft. Einmal nach hinten, abwärts und wieder aufwärts. O Gott, was für Haare! Eben noch touchierten sie das Parkett, jetzt fliegen sie aufwärts. Ausladend sind sie, die Gespinste und blond, einen Wimperschlag lang die gefächerte Korona. Dann – mit der jähen Wendung – stürzt alles zurück an den Kopf, schmiegt sich und legt sich sparsam. Das alles bleibt ihm, das alles bleibt dem Tänzer verschlossen. Sein Kopf lebt in Halbglatze, Halbglatze mit diesem Rest Streuzwirn. Doch auch das zeigt Wirkung. Schwarz angebügelt und in Gel, glänzt dieses Rudiment – glänzt, als wolle es weiter reichen.
Jetzt hebt sie ihren rechten Schenkel, und gewiss darauf hat man gewartet, hebt ihn und winkelt ihn in seine Lende. Verdammte Geste, ein Tun, dass nichts weniger beschreibt als das Erahnte, jenen Akt, der im Stahlrohrbett endet – später. So und nicht anders klingt es aus den Mündern der Insider. Nicht von ungefähr, denke ich und senke die Lider. Später beim Sekt – ich nehme es vorweg - die Heuchler, Spießer, die sich – kaum, dass man einstimmt in diese Deutung - entsetzt abwenden. Krebsrot ihre Gesichter und auffällig heftig, wie sie ihre Lüge einsteifen. Die bigotte Mutter mag Schuld sein oder sonst wer. Sinnlos, sie darauf zu nageln, zwecklos sie lockern zu wollen. Sie tricksen auch zweimal. Doch es nervt, wenn sie beständig von Kunst reden, von Takt und Einfühlung, und eben dies auch zu leben vorgeben. Man trifft diese Typen immer, auch, wenn sie die Maler belagern. Ganz Auge, ganz Andacht, wenn der Künstler sein Modell aufs Papier nötigt. Völlig nackt die Kleine und natürlich begierig, in die Kiste zu springen. Nur, dass die Voyeure auch diesmal NEIN sagen, allenfalls am Weinglas vorbei ins Lachsbrötchen kichern.
Nein! Nicht immer nur das, nicht immer in diese Richtung. Alles etwas fragwürdig und scheiß männlich. Gewiss: Uns sprießen die Phantasien reichlich, und wenn die Dame ihren Schenkel in genau diese Stellung bringt, dann wird sie ihn auch anpressen und verdammt … wieder lösen. Jum dumm, die da da rum dumm jubiliert das Bandoneon. Seiner Vorgabe ist sie schließlich gefolgt, den Noten, der Choreographie und weiß Gott: auch dem zwingenden Rhythmus.
Schaut nur, jetzt löst sie sich, löst sich, um das Bein, ja genau dieses Makelbein, in seine Lücke zu strecken! Und wieder verharrt sie, ja es könnte sein, dass jetzt er ganz bewusst diese Pressung anstrengt, dieses Fleisch für Sekundenbruchteile festhalten will, diesen Zwang auskostet. O diese Hitze, diese Hitze!
Plötzlich seine Hand in ihrem Nacken – etwas, das es so beim Tango nicht gibt. Doch der Tänzer streift ihn nur flüchtig, streicht mit der Rechten abwärts. Ja …, dieser Nacken. Fast scheint es, als ob sich ihr Kopf lustvoll aufrichtet. Doch wirklich weiß niemand, was am Limes zwischen Schicklichkeit und Verlangen geschieht. Möglich, dass sie diese Hand erwartet, oder er irgendwie weiß, was er anrichtet. Doch mon Dieu, nicht das, nicht schon wieder ..! Sie jedenfalls hält ihm stand, wohl wissend, dass er diese Zone verlassen wird, doch nur, um sie erneut zu ziehen, umherzuwirbeln und in den Schritt zu zwingen.
Und genau dort ist sie wieder, in einem Schwung, der gerade noch durchgeht und dennoch Applaus zeitigt. Schließlich gerät auch der Musikus, sichtlich erschöpft, ins Schlingern. Er fasst sich noch einmal, knebelt das schwarze Knautschleder ins Faltenlos, und mit dem letzten, tatsächlich besiegten Aufschrei erstirbt es.
Stille.
Sekunden später - frenetischer Beifall. Der Spot, hektisch auf die Mitte bemüht, geht noch einmal voll auf - diesmal in Farbe. Und er taucht die letzte Verbeugung, dieses Auszittern und dann Auflachen des Paares in ein Rot, in ein magisches Rot.
AUSGEMUSTERT
Es tut weh - denn das Tagebuch, das ich im Geheimen verfasst und noch Jahre darauf unter meinen Presskohlen verborgen hatte, ist verloren. Ich habe es aus Angst irgendwann verbrannt.
Vor mir zittert die Plane. Es ist eine olivgrüne Plane, und obwohl sie festgezurrt ist, gibt es diesen Luftzug. Ich sitze auf der Ladefläche eines Militärlasters. Platt und einfach am Boden. Vor mir türmt sich ein Berg Stiefel, Stiefel, die wie ich nach Meinigen rollen. Er kümmert mich nicht, dieser heillose Haufen, und doch grüble ich etwas: Wer mag sich das ausgedacht haben, dieses seltsame Beieinander von mir und den schwarzen Ledern. Ein subtiler Gedanke? Doch irgendwie stimmt das. Auch ich komme mir schwarz vor. Passe glänzend in dieses Muster. Und vielleicht ist es üblich, Menschen wie mich so über Land zu schicken. Einfach aufladen und weg! Warum auch sollten die Absender freundlich sein? Leute, die sich auflehnen, verdienen das nicht. Und tatsächlich: Ich bin ihr Versager, ihr Vorzeigeversager, so ein Typ, der es fühlen soll.
Den Dienst an der Waffe verweigert, nennen sie es. Geben dem, was sich gestern zutrug, den Geruch von Schwäche. Gut, wenn sie es so wollen: Ich bin schwach, und ich habe versagt. Doch ich werde mir diese sechs Monate aus dem Leib reißen.
Noch ist das alles ein Vorsatz, und ich weiß nichts über seine Tragweite. Vermutlich ist das gut – ich weiß nicht.
Ich hasste schon den Zug, der mich mit den anderen wegbrachte. Er stank und war voller Bierlachen. Sie betranken sich einfach, die Gezogenen, machten das, was unabwendbar schien zu dem, was man zusoff. Sollten sie ihr Bier trinken, dachte ich. So ein Tag gab es her. Mich aber drückte er fies in die Polster, gab mir ein Gefühl, dass nicht abtaute - Kilometer für Kilometer. Kein Zweifel: Ich hasste das Militär. Genau so, wie sie es uns nach dem Krieg gesteckt hatten: Nie wieder Waffen in deutscher Hand. Was für ein Blödsinn, ging es mir durch den Kopf - diese Pflichtlektüre, diese Borcherts und Bölls. Man hatte uns animiert, sie zu lesen. Wozu nur? Wenn das, was wir zu hassen gelernt hatten, jetzt in sein Gegenteil umschlug. Neuerlich packte mich Wut darüber, und ich sah die vorbeieilende Landschaft wie ein Stück aufgegebener Geschichte.
Irgendwann dachte ich an Eichele, jenen zwielichtigen Typen, der mein Übel auslöste: die Unterbrechung meiner Aspirantur und dann die Verbannung ins Niemandsland. Es musste ein Ausbildungslager der Grenztruppen sein, so ein Ort, der alle Schrecken verhieß. Allein hier würde sich finden, was mich niederknüppeln und weich kochen konnte. Einer wie ich sollte büßen – für den eigenen Freigeist und für den seines Vaters. Beide hatten wir die Werbung der Partei ausgeschlagen. Und wenngleich wir dies verschieden begründeten - wir waren Ungläubige. Er hasste die Russen, tat sich schwer damit, die Vergewaltigung seiner Frau mit Worten wie BEFREIUNG aufzuwiegen. Ich hingegen hatte nur halbe Motive: nicht schweigen, nicht ducken wollen.
Wie logisch war es dann, den Leiter des Betriebes, in dem später auch ich auftauchte, gemeinsam mit dem Sohn niederzustrecken. Nun ja, mein Vater war lange tot. Doch die Erbsünde übertrug sich – auf mich.
Ich kam schließlich an in Eisenach, stieg auf zum Regiment, das am Berg lag. Ein fataler Weg. Doch Widerstand war zwecklos, war etwas, das Gefängnis verhieß. Ich musste es gelassen nehmen, mich in ein Schicksal fügen, das zwanghaft schien und doch weiter führte – einfach, weil es nur das gab.
Es ist müßig, diesen Alltag zu schildern. Er brach über uns herein, wie das immer geschieht. Hier rigider, dort verhaltener, aber stets mit ähnlichen Ritualen: Uniformen, Stiefel und Wäsche fassen, Schränke einräumen, Betten bauen und Schnauze halten. Und doch fiel mir auf, dass es anfangs leicht lief - die Vereidigung, pathetisch und dummschwätzig, die Grundausbildung, die täglichen Appelle und der sonstige Kram. Erst viel später rückte das Eigentliche in den Fokus: die Kalaschnikow. Und je öfter wir die Waffe in die Hand nahmen, desto deutlicher spürten wir, dass es damit nicht getan war. Der Befund war finster, wurde Schmerz, der wucherte und im Kopf festsaß. Was das hieß, begriff ich, als wir zu spielen begannen. Es waren Scharmützel ohne Gnade, angestachelt von den Kapos, die frisch von der Grenze kamen. Leute wie sie wussten, wie das ging: einfach draufhalten und PENG.
Das also war es.
"Stellt euch nicht so an!" schnauzte Müller, als er sah, wie wir dastanden, dümmlich und etwas klapprig "das sind Feinde, versteht ihr, das sind – verdammt noch mal – eure Feinde, Leute, die euch ans Zeug wollen."
Benommen stießen wir aneinander. Trippelten - ja wirkliche Schritte waren es nicht, die wir aufführten - ins große Kampfzelt. Dort erst gab es die volle Wahrheit: das auf Platten genagelte Dorf, den Zaun, die Feuerzone aus Pappe. Waren wir erschrocken, oder glotzten wir nur? Sekundenlang jedenfalls bewegte sich nichts. Erst als Becker ALARM brüllte, verteilten wir uns.
Müller brachte die Grenzer in Stellung, zog grüne, mit Zahlen beschriebene Puppen an Plätze, die zu leuchten begannen.
"So", rief er aufmunternd, "jetzt seid ihr dran. Sie, Lehmann, übernehmen Grenzverletzer eins, sie Bender den zweiten ...!"
Lehmann, sichtlich irritiert, stutzte: eine Frau? Hatte er das blaue Gepinsel auf Papier richtig gedeutet? Und war da nicht, geknickt und sehr viel kleiner, ein Kind?
"Na nun setzen Sie schon! Oder wollen sie Wurzeln schlagen?".
Der Soldat zögerte. Dann aber schob er die Pappen ins hintere Eck.
"Nicht dahin, Sie Idiot! Pennen Sie denn? Das sind Flüchtende. Wann begreifen sie endlich? Die Blauen, das sind Flüchtende!"
Lehmann zog beide ein Stück vorwärts.
"Na sehen Sie ..., es geht doch!"
Das Szenario war gespenstisch: weitläufig das rasierte Kunstgras, die Grenzzäune, Häuser und rot flackernd die Zielorte. Dazwischen die Positionen der Flüchtenden – zuerst auf Punkte fixiert, dann aber wechselnd. Und genauso die Grünen. Finger brachten sie auf Trab - die Knarren im Anschlag. Selbst die Schusslinien waren ausgelotet - ganz am Ende. Und die Einschläge mit Nadeln bezeichnet. Nur das ... Blut fehlte.
"Nach vorne damit!" krakelte Müller, als Lehmann zu zucken begann. "die Hure muss bluten! Oder glauben Sie, dass die, die das Leben ihres Kindes gefährdet, eine Mutter ist? Eine Schlampe ist sie, nichts als eine verdammte Schlampe! Ziehen Sie sie an den Zaun, direkt vor den Draht!"
Puppe 13 bereit für den Abschuss. Sie war es. Sie war das Opfer, ein Stück Mensch, das nur lief und nach drüben wollte.
Urplötzlich stand ein Schauder im Raum. Es war kalt und still. Müller, der die Stimmung spürte, geriet in Panik.
"Seht ihr die Pistolen?", schrie er, schrie, obwohl die Gesichter starr und die Finger kalt wurden. "Die sind Blauen sind bewaffnet. Die feuern auf alles, was uniformiert ist."
"Ohne mich!" Ich brüllte diese Worte ohne Vorwarnung, ballte die Fäuste und sprang zur Seite. Irgendwie ging ein Ruck durch die Truppe. Alle Blicke stießen in meine Richtung, fixierten den, der gar nicht dran war, der kein Ziel hatte und dennoch außer sich war.
"Bleib ruhig!", wisperten die Umstehenden und packten mich bei den Armen. Ich aber riss mich los und stob nach draußen.
Chaos.
Die Kapos, wütend und konsterniert, setzten mir nach. In meinem Zimmer stellten sie mich, griffen nach dem Bett, in das ich mich verkrallt hatte.
"Stehen sie auf, Bender!" schrie Müller "Sie verdammter Idiot ... kommen Sie auf die Beine!"
Und sie packten mich, zogen meinen Kopf vor die Lampe und stierten. Ich aber heulte wie ein Erstklässler, dem die Wangen blau liefen. NEIN, rotzte ich, nein! Immer wieder dieses eine Wort NEIN.
Ich habe die Plane leicht aufgeknüpft und blicke hinaus. Vor mir liegt Thüringen, eine Landschaft, die mir lieb ist. Sie indes ahnt nichts. Schiebt nur Hügel, entlaubte Bäume und Häuser. Und beziehungslos auch die weiße Decke. Diesen Schnee, der sich endlos breitet – und jetzt auch zu mir herein will. Was für ein Weiß! Ungestüm benetzt es meinen Mantel, strickt Muster und schmilzt.
Meinigen ist weit, und die Straße unter mir mit Löchern gespickt. Der Lkw schüttelt sich wie ein störrisches Zugtier. Durch das Fenster an der Vorderseite sehe ich Köpfe. Sie tanzen. Zwei soldatische Köpfe im Takt der Piste, und rechts der Major. Er wird mich vorführen müssen, ganz sicher: Er wird es sein, der mich ausliefert.
Was, mein Gott, werden sie tun?
Fast schlagartig sind wir im Tunnel. Es ist mein Tunnel, mein Dunkelkammer-Ort, in dem ich die Bilder fixiere. Fahrige Fetzen von Sein und Ahnung. Einmal Meinigen …und zurück?
Nichts sagt mir, wo der Weg ist. Alles, was die Zukunft ausmacht, liegt abseits. Noch herrscht Finsternis - auch über den Stiefeln.
Will ich das Richtige?
Simon taucht auf, mein alter Kumpel. Er war es, der wie ich diesem Traum nachhing. Er war es, der wie ich für die neue Zeit stritt. Zumindest für das, was uns gut dünkte?
Und den Gedanken, dass der Mensch dieses Etwas nicht ausfüllen konnte - wir ließen ihn nicht zu damals. Und wir glaubten, dass sie eines Tages weichen würde, die schwarze Kehrseite.
Ja Simon, tauche nur auf und versinke!
Wir hatten auch Pflichten, mein Junge. Dieser kalte Krieg. Er musste uns zwingen, sie anzunehmen.
Damals hielten wir uns. Hier aber im Tunnel habe ich Mühe, mich aufzurichten. Hocke versteinert wie ein Gnom, der sich einpisst.
Hatten wir uns verirrt, Simon?
Ich weiß nicht, wie oft sie sich mit Menschen wie mir befassen. Sicher selten, denn Eisenach spuckt nur mich aus, sonst niemanden. Das wird sie bösartig machen, vermute ich. Und tatsächlich: Als ich vor sie trete, sehe ich genau diesen Zucken, diesen Augenaufschlag, uniformiert und verächtlich. So ein Idiot ohne Standvermögen, lese ich. Mir aber ist das gleich. Ich betrete diese Hölle, und ich will sie verlassen.
"Mund auf", kommandiert ein Weißkittel. "Gibt es in ihrer Familie Fälle von Geistesschwäche?"
"Nein", sage ich.
"Und warum schießen Sie quer?"
"Ich schieße nicht ..."
"Wie..., schießen nicht?"
Ich schwitze in diese Frage, und ein Schwall Wut überkommt mich. Ich spüre ein Brennen im Gesicht und zittere.
"Weder kreuz noch quer!"
Bei quer knickt mein rechter Fuß ein.
"Sind Sie verrückt geworden?"
"Lassen Sie", fällt ihm der Oberst ins Wort, "der Mann ist labil". Sagt es und schaut zu, wie ich umfalle.
"Kein Grund, die Grätsche zu machen", kommentiert er. Befiehlt dann aber, mir aufzuhelfen.
"Gefallen ist gefallen", sage ich.
"Es wird Ihnen nicht gefallen", erwidert der Oberst und freut sich über sein Wortspiel. "Sie kommen nach Pfafferode."
"In die Nervenklinik?"
"Sicher, Genosse."
"Aber ich will nach Hause ..."
"Nix da. Nicht in diesem Zustand!"
"Und Sie glauben ... in Pfafferode?"
"Genau, da kommen Sie wieder auf die Beine"
"Und dann?"
"... stehen Sie wieder."
"In den Akten" flüstere ich "vermutlich in den Akten."
DER KOFFER
Was blieb, war der braune, zerknautschte Koffer. Ein Ding, das scheußlich aussah, in den fünfziger Jahren aber durchaus in die Welt gepasst hatte.
Was übrig blieb von meiner Mutter, war dieser Koffer, ein Behältnis mit goldfarbenen Schubverschlüssen, etwas, das wir Söhne klaglos tragen, aber nicht wirklich öffnen mochten. Folglich stand es noch Monate nach dem Tode unberührt.
Irgendwann als wir glaubten, Mutters wenige Habseligkeiten unterbringen zu müssen, haben wir uns doch mit den Schlössern beschäftigt, haben den Deckel abgeklappt und einen Blick ins Innere geworfen – in das, was so willkürlich nebeneinander gestellt und gelegt war. Da gab es Tagebücher, alte Briefe, sogar die Kinderzeichnungen, Schulhefte und Urkunden von uns Söhnen, Karten von den Enkeln, die Reste eines Manuskriptes („Das war mein Leben“), ein Bericht über die Hochzeitsreise 1937, Unterlagen zum Verkauf des Elternhauses und eine Tüte mit alten Bestecken – teils verrostet, teils versilbert. Was blieb, war diese Sammlung, etwas, das mein Bruder in Teilen an sich nahm, dessen zweite Hälfte ich von Berlin nach Ratingen schleppte und dann in meiner Kombüse vergrub.
Als ich vor sechs Monaten zwei Mäusen auf der Spur war und so auch meine Abseite entrümpelte, fiel er mir wieder auf, der Koffer. Ich hatte Zeit, ihn anzuschauen und intensiver als sonst über ihn nachzudenken. Ja, ich erwog sogar, etwas aufzuschreiben. Schob das aber lange auf, weil, wenn ich das Ding öffnen würde, auch die Tagebücher berührt werden müssten, und davor hatte ich stille Angst.
Vorgestern habe ich den Koffer geöffnet, seinen Inhalt auf dem Boden ausgebreitet: Wieder die Briefe, wieder die Messer und Gabeln. Dann aber ein Bild, dass mich nachdenklich stimmte: Bruder Bernd im Paddelboot – irgendwo auf dem toten Arm. Dicht daneben und doch wenig zugehörig: die Sütterlin-Stickerei von Großmutter. Dazwischen Tagebücher, drei an der Zahl – eines mit der Aufschrift nach meinem Tode vernichten. Ich erinnerte mich an die Worte. Mutter hatte sie von Hand auf den Zettel geschrieben und dann aufgeklebt. Erinnerte mich ohne zu wissen, was diese Worte in mir bewirken würden. Unbewusst spürte ich, dass ich ein Tabu brechen – diese Bitte meiner Mutter in den Wind schlagen könnte. Und ich fühlte mich schlecht dabei. Durfte ich in das Tagebuch meiner Mutter einbrechen, ihr die Worte nehmen, die nur für sie bestimmt waren? Mein Bruder – zur Lage befragt – verhielt sich indifferent. Gut möglich, dass er nacheilende Schelte fürchtete, etwas, dass Mutter in Papier gebrannt haben könnte – verzweifelt, wütend oder sonstwie (das Gegenteil traf zu!). Auf jeden Fall wollte er keines der Tagebücher lesen, bestand aber auch nicht darauf, sie zu verbrennen. So war es an mir zu entscheiden. Und ich entschied. Nicht aus Voyeurismus, wohl aber, weil ich mehr wissen wollte – über meine Mutter, über uns alle. Sollte es Botschaften geben, die nur für sie bestimmt waren, ich würde sie zurück verschließen. Das zumindest versprach ich mir. In einem Brief, den ich an mich selbst adressierte.
Vor uns, besser gesagt: vor mir, liegt berührt aber ungeöffnet ein Brief unseres Vaters. Mutter hat den Umschlag mit dem Wort Abschied versehen. Ich vermute, dass es der letzte Brief ist. Die Nachricht aus einer der Kliniken. Es muss ein bitterer Brief sein – wahrscheinlich einer, der jeglichen Trost ausschlägt, einer, der den Tod zeichnet oder, was wir immer fürchteten: den Selbstmord. Ich habe die Zeilen des Briefes nicht vor mir. Und obwohl ich nichts weiß, einfach nur traurig bin und in dieser Traurigkeit vor mich hinstarre, spüre ich Hass aufsteigen. Eine zu spät kommende Empörung, eine, die den Tod wiederbelebt, eine, die den Tätern an Geist und Körper meines Vaters Konturen verleiht. Oh nein! Nicht die Weißkittel sind gemeint, nicht die Ärzte, Schwestern und Pfleger, die ihn operierten, ihn umherfuhren und irgendwo betteten. Nein. Ich stellte mir anderes vor: Menschen, die Vater ruiniert, seine Kräfte ausgelaugt hatten – die falschen Genossen, Leute, die ihm ans Zeug wollten, ihn irgendwann degradierten und wegstießen. Nur, weil er nicht einer der ihren, ein Bonbon-Träger, ein Gleichgeschalteter werden wollte – den Kotau im Anschlag.
Ich habe phantasiert, ich habe vermutet. Etwas ins Papier interpretiert, etwas in den Umschlag geschoben. Worte, die ich Weiß wollte und doch dem Vergilben preis gab. Vaters vorletzte Verzweiflung, das Hinwerfen von Hoffnung, jene kaum formulierbare Botschaft an uns, die Zurückbleibenden. Hier und da Tränen, die Ränder erzeugt haben mochten. Ach, was sag ich?
Diese Niedergeschlagenheit zu ertragen, diesen Brief zu öffnen, wage ich nicht. Vielleicht wagen es meine Söhne.
Was übrig bleibt, ist ein Koffer, ist der Geruch von Zeit. Ein Odem, der den Dingen anhaftet, ihnen entströmt und ihr Dasein zu erklären vermag. Etwas, das sich heute, tausend Jahre danach, dürftig ausnimmt, dennoch aber Anspruch darauf hat, geliebt zu werden.
Ich werde Teile der Bestecke meinen Kindern übereignen – in der Hoffnung, dass sie sie annehmen und ihr Kopfschütteln verbergen. Ich werde alles, was im Koffer bleibt, einfach da lassen. Da lassen für den, der es fertig bringt, dieses Stück Restleben zu entsorgen. Das allerdings könnte dauern. Vielleicht … bis ich selbst auf Kiste und Koffer reduziert bin.
Gleich, wenn ich das ausgebeutete Etwas zurückschiebe, ihm das letzte Liegen verordne, werde ich heulen. Das Licht löschen und mich leise davonschleichen. Eine nochmalige Nähe wird es nicht geben.
Ganz bestimmt nicht.
Aus: DA WAR MEHR ALS BITTER FELD. Erzählungen, Streiflichter, Reflexionen. Heiner Labonde: Grevenbroich 2017.
EIN STEIN KOMMT SELTEN ALLEIN
Ich habe Mühe, die Einsteinschen Weisheiten auch nur ansatzweise zu begreifen. Eine gleichförmig in einer Richtung bewegte Uhr geht langsamer als eine auf dem Tisch verbliebene. Woraus für höhere Geschwindigkeiten folgt, dass der Uhrbegleiter langsamer altert als derjenige, der am Tisch hängt. Das verstehe, wer will. Oder: Hier krümmt sich die Raumzeit und schreit vor Schmerz. Hier krümmt sich, was auch Banane will, und locht sich – vornehmlich schwarz. Gewurmtes Wurmloch, gefälschte Lichtbahnen – ihr seid so gar nicht, was mich anmacht. Und bitte: Was soll ich mit dem blauen Riesen, der irgendwann zusammenbrechen und sich zur Murmel verdichten soll. Um einfach so eine SternNeutrone oder ein gewaltiges LochSchwarzes zu gebären?
Da mir nur noch wenig Raumzeit bleibt, und die noch ausstehende sicher neue Erkenntnisse bringt, entscheide ich pragmatisch: Ich will es nicht! Warum diese hyperbolischen Quanten ins Gehirn klopfen, wenn es später nur Quatsch ist – und auch so verkauft wird. Ich meine: Wir sollten einfach später draufschauen oder es sein lassen.
Nun klar: Mir persönlich sind Grenzen gesetzt. Aber auch in Grenzen heißt es, die verbliebene Intelligenz dort einzusetzen, wo es Sinn macht. Wenn schon Weltraum, dann Asteroide oder Kometen abwehren statt den Mars zu nerven und dort … Atmosphäre zu schaffen – wo die doch ursprünglich durch schwindende Haftung verloren ging.
Ob ich so denke oder nicht: Es kursieren immer neue Verrücktheiten – so es denn welche sind. Gravitationsphysiker aus Potsdam meinen, dass die von Georges Lemaitre 1927 geäußerte Auffassung, alles habe mit dem Urknall begonnen, durchaus anfechtbar sei. Es mache Sinn, Alternativen zu verfolgen, z. B. die des zyklischen Universums, wonach der Kosmos ständig neu "geboren" werde, vergehe und wieder auftauche. Dem stünden andere Theorien gegenüber, zum Beispiel die, dass es nicht das eine große Universum, sondern viele kleine gebe.
Andere WeltAller sind noch abgefahrener drauf. Sie meinen, dass Urknall und Weltall das Ergebnis einer gigantischen Kollision sind – nämlich der zweier Paralleluniversen.
Bleibt natürlich die Frage, was vor dem Urknall war. Oder die, was (räumlich) hinter dem Universum/den Universen/dem Weltall steckt. Da Raum und Zeit – zumindest nach der derzeit dominierenden Theorie – unendlich sind, gibt es darauf ebenso Null Antworten wie auf die Suche nach dem Kleinsten und Größten. Auch hier deutet alles auf unendlich. Was die irrwitzig teure Grabung des CERN nach dem vermeintlich noch fehlenden Baustein der Materie – jenem Higgs – irgendwie sinnlos macht.
Und weil wir gerade beim CERN sind: Dessen Chefin, Fabiola Gianotti, behauptet, wir würden nur 5% des Weltalls kennen.
5% wovon? Von unendlich? Ist das nicht auch unendlich? Und hieße das nicht, dass wir alles wüssten?
In diesen Labyrinthen finde sich zurecht wer will. Tatsächlich steht Gianotti voll auf dunkel. Dunkle Materie und dunkle Energie, sagt sie, seien die wichtigsten Bestandteile des Alls. Wenngleich wir sie derzeit weder ausmachen noch packen können.
Pavel Kroupa ist strikt dagegen. Für ihn ist dunkel ein Hirngespinst. Kroupa verzichtet ganz einfach auf immer neue beschworene SchlussSteine. Er folgt ganz einfach der ursprünglichen SchwerkraftLehre von Isaac Newton. Und tatsächlich: Auch das könnte funktionieren.
Gut möglich, dass wir dem Einstein künftig die GEGEN-Zunge rausstecken müssen. Nicht in voller Länge, denn in wichtigen Details lag und liegt der Mann ja richtig. Ohne ihn hätte es schließlich weder Curiosity noch Rosetta gegeben, und die …
haben wir doch geliebt.
Aus: Ein.Stein. Essays. Arachne: Gelsenkirchen 2018.
DAS VERBRECHEN OBSIEGT: ASSANGE DÜRFTE SCHON BALD IM GEFÄNGNIS LANDEN
Das ist doch klar: Correa-Nachfolger Lenin Moreno, der sein Land bei den USA, der Weltbank und dem IWF schwer verschuldet und zudem heftige Probleme mit der Wirtschaftskrise hat1, wird mit Trump & Co. einen Deal ausgeheckt haben. Ihm, dem sein linksliberales, kapitalismuskritisches Programm schon kurz nach dem Amtsantritt abhanden gekommen ist, muss man das durchaus zutrauen. Er dürfte den Whistleblower Julian Assange, der unter Correa ein quasi unbefristetes Asyl in der Londoner Botschaft Ecuadors erfahren hatte, schamlos an seine Verfolger verkauft haben. Das Ganze geschah auf höchst undurchsichtige Weise: Zunächst zwang man Assange, die Botschaft zu verlassen, dann wurde er von der britischen Polizei wegen eines Verstoßes gegen die britischen Kautionsauflagen verhaftet. Man hätte meinen können, dass die Schweden, die Assange wegen angeblicher Vergewaltigung auf skandinavischem Boden vor Gericht stellen wollten, die Auslieferung nach Stockholm fordern würden. Doch das oberste Gericht verbot den schon verfassten Auslieferungsantrag. Warum und … ich wage zu formulieren: auf wessen Intervention?
Dann hieß es plötzlich, dass diesbezügliche Ermittlungen auch in England durchgeführt werden könnten. Geschehen ist nichts in der Sache. Aber der Weg von England in die USA ist unkomplizierter als der von Schweden in die USA.
Ab heute nun beginnt sich der Kreis zu schließen, und jeder Denkende weiß, wie das endet. Der politische Weg für Assanges Auslieferung in die USA ist frei. Das US-Auslieferungsersuchen ist in
London als gültig und berechtigt anerkannt worden2. Jetzt bedarf es nur noch einer Entscheidung durch ein britisches Gericht. Und da weiß man bei aller vorgeblichen Gewaltenteilung sofort, wie
die Würfel fallen.
Assange wird mit höchster Wahrscheinlichkeit lebenslang in eines der US-Hochsicherheitsgefängnisse abwandern und dort zugrunde gehen (ihm drohen nach jetziger Einschätzung 175 Jahre
Haft!). Weil es nicht sein kann und darf, dass irgendwer die Verbrechen der US-Administration offenlegt.
Sie erinnern sich doch an das Video, dass die Bombardierung muslimischer Zivilisten und das zeitgleiche Gelächter der DrohnenLenker dokumentierte3. Assange, der darüber hinaus weitere belastende Dokumente – offenbar mit Hilfe von Chelsea Manning – über Wikileaks veröffentlicht hat, bereitet sich jetzt auf eine ziemlich aussichtslose Verteidigung in den USA vor. Dort regieren derzeit die Falken, die es von Tag zu Tag schlimmer treiben – und den Präzedenzfall brauchen. Auf dass es nie wieder ein Verrückter wage, Internas der Supermacht USA – vor allem aber deren Verbrechen – zur Schau zu stellen.
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1 https://www.dw.com/de/der-anti-correa/a-47800080
2 https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-06/auslieferungsantrag-wikileaksgruender-julian-assange-usa-zulassung
3 https://www.youtube.com/watch?v=zYTxuW2vmzk
Aus: Ich habe euch gewarnt. Selbstverlag: Ratingen 2021.
Vita
Ulrich Scharfenorth hat als Ingenieur 40 Jahre für die deutsche Stahlindustrie gearbeitet. Daneben literarisch tätig. Ab 1990 Journalist und von 1997 bis 2004 Chefredakteur einer Fachzeitschrift in Düsseldorf. Seit 2004 freier Journalist und Schriftsteller. Er schreibt Kurzgeschichten, Essays und Sachbücher und ist außerdem als Blogger (seit 2009) und Dokumentarfilmer tätig. Mitbegründer und Moderator der Ratinger KULTURkneipen (seit 2003). Lebt zusammen mit der Schriftstellerin Barbara Ming in Ratingen.
Mit 21 Jahren veröffentlichte der Autor seine ersten Texte in Literatur- und Uni-Zeitschriften der DDR ("Forum" und "Hochschulstadt"). Später wurden diese wegen missliebiger Äußerungen ausgesetzt. Weitere Publikationen folgten nach Übersiedlung von Bergfelde/Land Brandenburg nach Ratingen. Ab 1991 Mitglied des Literaturkreises ERA e. V.
Zahlreiche Veröffentlichungen, unter anderen in "JEDERART", "TASTEN", "Edition L/Lyrik für die Westentasche", "MAULTROMMEL", in der "Bergischen Taschenliteratur" – in Anthologien ("Jahrbuch Lyrik 2000", "Pink-10" und andere), in der "Edition Landpresse" ("Jahrhundertwende"/1996, "Zeit.Wort"/2003 und andere) und im Netz ("Lyrik ART", "Lyrikwelt", "Gedichte gegen den Krieg" und andere). Essays in "stahlmarkt", "Das Blättchen" etc.
Ab 1994 mehrere Bücher - belletristische Werke und Sachbücher, drei Hörbücher und zwei Dokumentarfilme.
Lesungen deutschlandweit: Berlin, Cottbus, Erfurt, Chemnitz, Kloster/Hiddensee, Zwickau, Neuruppin, Bernau, Düsseldorf, Wuppertal, Duisburg, Ratingen, Krefeld etc.
Prosa
Ich habe euch gewarnt. Selbstverlag: Ratingen 2021.
Alter Mann, was tun? 19 Versuche zu überwintern. Erzählung. Arachne: Bonn 2021.
Ein.Stein. Essays. Arachne: Gelsenkirchen 2018.
Zukunft … oder keine Essays. Gretus: Marklohe 2018.
DA WAR MEHR ALS BITTER FELD. Erzählungen, Streiflichter, Reflexionen. Heiner Labonde: Grevenbroich 2017.
abgebloggt – dreißig Monate zwischen Fakten, Hypes und Lügen (journalistisches (B)Logbuch). Heiner Labonde: Grevenbroich 2011.
Aus der Reihe getanzt. Erzählungen. Heiner Labonde: Grevenbroich 2010.
Bergische Taschenliteratur Nr. 57. 1995.
Absturz ins Paradies. Kurzgeschichten und Lyrik. Selbstverlag: 1994.
Funk
Zahlreiche Beiträge für Radio Neandertal (Sendung LitERAturzeit) und Antenne Düsseldorf.
Film
Paris Belle Epoque – eine Spurensuche. Dokumentarfilm. 2019.
Kuba – fast die gesamte Wahrheit. Dokumentarfilm. 2019.
Sonstige Medien
hart & anschmiegsam. Gedichte. Hörbuch. 2020.
Geschrotet. Kurzgeschichte. Hörbuch. Eigenproduktion im Verbund mit dem Rundfunkstudio der Uni Essen: 2004.
Aufzeichnungen aus der blackbox. Kurzgeschichten und Lyrik. Hörbuch. Eigenproduktion im Verbund mit dem Rundfunkstudio der Uni Essen: 2004.
Sachbuch
Störfall Zukunft. Schlussfolgerungen für einen möglichen Anfang. Erzählerisch aufgemachtes Sachbuch. Heiner Labonde: Grevenbroich 2008.
Anthologie
Zahlreiche Veröffentlichungen in Anthologien, Zeitschriften und Zeitungen.
Selbstauskunft
Ab 1993 trat Scharfenorth bei zahlreichen Lesungen im Umfeld von Düsseldorf auf. Parallel dazu ging er, gemeinsam mit der Schriftstellerin Barbara Ming, auf mehrere Lesereisen. Diese führten u.a. nach Berlin, Düsseldorf, Ratingen, Dresden, Erfurt, Chemnitz, Neuruppin, Wuppertal, Cottbus, Hiddensee usw. Ab 1997 verfasste Scharfenorth zahlreiche Essays (Zeitschrift "stahlmarkt") und begann 2005 mit den Recherchen für sein Buch "Störfall Zukunft - Schlussfolgerungen für einen möglichen Anfang", das 2008 erschien. Als Fortsetzung zu dieser Publikation existiert seit Anfang 2009 eine themenrelevante Plattform im Internet (www.stoerfall-zukunft.de), auf der er aktuelle wissenschaftliche und politische Beiträge veröffentlicht. Das Thema "Zukunft" wurde in weiteren Publikationen erneut aufgegriffen. Seit 2009 als Blogger unterwegs (über 300 Beiträge auf seiner Website).
Quellenangabe
Auskunft Autor