Arbeitsproben (1)
Aus: TRIEBSCHATTEN
Der Amerikaner kommt, sagt Niklas, und du träumst hier vor dich hin, ein Kollege mit Frau, nun zieh dich bitte um. Ja, ja, ich komm schon, sagt Martha, dein blödes Fest, nur eine Valium, dann bin ich soweit. Die Amerikaner kommen, sagte Großmutter, die Amerikaner kommen! Fliegendraht, Desinfektion, Schokolade und John, der Koch, frech und verspielt, und auf seiner Brust ein Pferd, ein blaues Pferd, in die bloße Haut geritzt, das konnte springen, über seine Muskeln springen, wenn er es wollte. Du machst aus der Fahne deine Hose, sagte er zu Großmutter, und das Hakenkreuz hier: am Arsch! Großmutters Nähkunst hatte sich herumgesprochen und Martha war häufig dabei, sortierte Nadeln, ordnete Fäden, Knöpfe in allen Farben, sah Großmuter zu. Die Hose gefiel John, und der schlug ein Rad in der Hose mit dem Hakenkreuz, auf der Wiese hinterm Gasthaus, wo sie wohnten, Großmutter und Mutter und Martha und Schwester Wilhelmine und die Wirtsfrau mit ihrer Tochter. Komm mit, kleine Martha! John mochte Martha, legte jeden Morgen ein Stück Schokolade auf die Fensterbank, und Martha mochte John und ging mit, in die alte Post, wo John wohnte, breitete er auf dem Boden ein Tischtuch aus und zeigte seinen Schatz: Glitzerringe von feinen Damen, Uhren mit Kette und Ketten mit Uhren, Armreifen, Anstecknadeln, Glitzerbroschen, Münzen und, für dich, kleine Martha, eine Haarspange mit Schmetterling aus Gold. Der John ist mein Freund und, komm mit, kleine Martha!, hinüber in die alte Villa, in der früher der Lehrer, der als erster am Fenster, den traf die Kugel, die einzige von Amerikanern in unserem Dorf, durch sein Fernglas, durch sein Auge direkt in den Kopf, und in der jetzt der Kommandant, den bisher niemand gesehen, niemand aus dem ganzen Dorf, ein Jude, hatte Großmutter gesagt, ein Jude, der mag keine Deutschen! Kommandant, das ist little Martha, sagte John und lispelte dabei, wie immer. Der Kommandant hörte Musik, die war heiter, übermütig und sehr traurig zugleich, und dann gab er Martha die Hand führte sie im Kreis, und gab ihr Erdnüsse, eine ganze Dose mit Erdnüssen, die mußt du nun alle essen, war Martha sich ganz sicher, das ist deine Pflicht, und stand auf dem Balkon mit der Musik in der alten Villa und wurde ganz weiß im Gesicht und kalt, und den Rest holten die Vögel und John brachte Martha heim. Heim. Geborgtes Gasthaus mit einer Bank vor der Tür und zwei Kastanienbäumen und Großmutters Nähmaschine und das Schmuckkästchen von der Tante aus Krefeld, die mit dem Schmuckgeschäft, die die war Martha zuwider. Paßt gut darauf auf, hatte Tante gesagt, alles, was wir besitzen! Und Mutter gab acht, als wärs ihr eigenes, durch den Krieg und zurück. Da bist du ja, Martha, sagte Großmutter, wo warst du denn nur? Beim Kommandanten, ich war beim Kommandanten und der spricht nur mit mir. Zeig her deine Haarnadel, sagte Wilhelmine, die ist für mich. Ihr seid wohl verrückt, sagte Mutter, keine Zeit für sowas, brauchen ganz was anderes, her mit der Nadel und streitet euch nicht! Und am anderen Morgen gab’s Kaffee in Bohnen für Mutter und Großmutter, der wurde gemahlen, der wurde gebrüht und das Pulver getrocknet, auf der Zeitung, gebrüht und getrocknet. Höchste Zeit, wo bleibst du nur, Martha! Niklas ist charmant und spreizt sich vor den Gästen und zeigt ihr das Haus, der Frau vom Kollegen. Das dauert, weiß Martha und bemüht sich und betrinkt sich, Erdnüsse zum Sekt, der Amerikaner sieht gut aus, er sucht sei Frau, ein schönes Haus, Herr Professor, und so geschmackvoll gerichtet, bald besuchen Sie uns, da bist du ja, Darling, wo warst du denn nur, hall Martha, as ist, Sie sind ja so blaß! Martha erwacht im Bett purpurrot, im Ohr den Gesang von Niklas, die ganze Nacht, die Gäste, der Applaus, das liebt er, Gott ist mir schlecht , diese Erdnüsse, durchs Bett und Purpurrot von den Lippen, und dieser Geruch, tastet Martha mit den Fingerspitzen über die Haut, über Haar, über Laken und Kissen. Seht euch das an, sagte Mutter und betrat das Zimmer, die Amis waren weg, alles voller Rot, purpurrot das Bett vom Saft der Heidelbeeren, die gepflückt und gesammelt im nahen Wald, eingemacht für den Winter, die Reste im Bett, dazu peanuts und dann auf dem Tisch: Kartoffelschalen, angehäuft , bildeten zwei Ringe, in deren Mitte Bonbons, in allen Farben leuchteten sie Traurigkeit fort, und in dem anderen Kaffeebohnen, duftend, und ein Zettel: John. Die Russen werden bald hier sein, hatte er zu Großmutter gesagt, seht zu, daß ihr heimkommt! Heim. Kellerloch im alten Rathaus, Ruhrgebiet, ausgebombt, und Vater und Dadulla, mit feuerrotem Haare und Strümpfen aus Perlon, das ist Dadulla, die bleibt jetzt bei uns, und Mutter schwieg und wurde blaß, nach dem Krieg, nach der Flucht, übers Lager Friedland, entlaust und im Dreck und vor Hunger halb wahnsinnig, mit all den Säcken mit Hab und Gut mit in den Zug, brachte sie uns heim und: schwieg. Da fehlt ja ei Ring, sagte Tante aus Krefeld, und Mutter wurde bleich und kalt, stand nur so rum, ohne ein Wort. Hier, nimm den Stoff, deine Belohnung, sagte Tante, aus der Ablage im Fenster, purpurrot und aus Samt, auf der der Schmuck vor dem Krieg, ja, ja, der lange Krieg, und Großmutter nähte ein Kleid aus Samt, purpurrot.
Vita
Geboren 1954 in Rheydt. Studierte Anglistik und Geographie für das Höhere Lehramt mit 2. Staatsexamen. Seit 1985 lebt und arbeitet er als freier Künstler und Schriftsteller in Aachen. Obwohl mit seinen zahlreichen nationalen und internationalen Ausstellungen und Projekten auch der Bildenen Kunst zuzuordnen ist, bestimmt die Auseinandersetzung mit Literatur wesentliche Züge seiner interdisziplinären Arbeit, in der er oft direkt und konkret auf ein vorgegebenes, spezifisches Thema reagiert, das stets im gesellschaftlich-politischen Kontext angesiedelt ist. Schriftstellerisch arbeitet Vincke in den Bereichen Theater, Lyrik und Kurzprosa.
Auszeichnungen
2005: TORSO-Literaturpreis für Asye S. Eingemauert. In mir.
Bühne & Drama
ASYE S: EINGEMAUERT. IN MIR. (2005) UA unter der Regie von Reza Jafari: 2006 im chaostheater in Aachen, Musik von Anton Berman. Aufführungsrechte: Deutscher Theaterverlag GmbH: Weinheim. theater@dtver.de. www.dtver.de.
Basiert auf der authentischen Lebensgeschichte einer türkischen Frau, die 1956 in einem kleinen Dorf in Mittelanatolien geboren wurde und dort ihre trostlose Kindheit bei verschiedenen Stiefmüttern verbrachte, bis ihre eigene Mutter sie im Alter von neun Jahren nach Deutschland holte. Mit fünfzehn Jahren wurde sie von ihrem späteren Ehemann entführt, vergewaltigt und zur Heirat gezwungen.
ALBA (2004). UA unter der Regie von Reza Jafari: 2005 im chaostheater in Aachen, Musik von Anton Berman. Aufführungsrechte: Deutscher Theaterverlag GmbH.
Hintergrund für das Stück bilden die authentischen Ereignisse um den mysteriösen Tod eines jungen DJs.
COOL.CULTURE. (2004) (Krautgarten-Literaturmagazin Nr. 45) UA unter der Regie von Thomas Bünten: 2004 im Theater 99 in Aachen, Musik von Anton Berman. Aufführungsrechte: Monte Baldo Theaterverlag: Durmersheim. info@montebaldotheaterverlag.de. www.montebaldotheaterverlag.de
Thematisiert in grotesker Form die Frage nach dem Sinn kulturellen Schaffens in geistfernen, von Kommerz dominierten Zeiten. Es greift (Klischeehaft) die Jugendsprache und -musikszene auf, um sich mit der Frage gesellschaftlicher und kultureller Identifikation bis hin zum ""kulturellen Selbstmord" auseinanderzusetzen.
TRIEBSCHATTEN (2002) UA unter der Regie von Guido Rademachers: 2006 im Suermondt-Ludwig-Museum in Aachen. Unveröffentlicht. Aufführungsrechte beim Autor.
Handelt von der Hörigkeit, Emanzipation, Kunst und sexuellen Mißbrauch. Als Lesung wurde TRIEBSCHATTEN in Zusammenarbeit mit dem Musiker und Komponisten Anton Bergman bei den "Möchengladbacherr" und "Aachener Literaturtagen" 2002 vorgestellt.
MASKENWECHSEL (2001) (Krautgarten-Literaturmagazin Nr. 39) Aufführungsrechte beim Autor.
Als Folie dienen Ereignisse um den skandalösen "Fall Schneider/Schwerte". Im Mei 1995 wurde durch Recherchen des niederländischen Fernsehens bekannt: Der anerkannte und hochgeehrte Alt-Rektor der RWTH Aachen, der Germanist Profesor Hans Schwerte, war bis 1945 Hans-Ernst Schneider, SS-Hauptsturmführer im Amt "Ahnenerbe" im persönlichen Stab von Heinrich Himmler.
FENSTER ZUR HOFFNUNG (1999)(Krautgarten-Literaturmagazin Nr. 24) UA. 2001 unter dem Titel KUNST.FEHLER. in der Inszenierung von Martin Goltsch im Aachener Theater 99. Aufführungsrechte beim Autor.
Das Stück hat die Lebensgeschichte von Hans Bohlmann zur Grundlage, der in Deutschland als Kunstzerstörer bekannt wurde.
Quellenangabe
Auskunft Autor