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Elke Engelhardt


Elke Engelhardt © Elke Kampeter
Elke Engelhardt
1966
Verl
Bielefeld
OWL, Minden, Bonn
Ostwestfalen, Rheinschiene, Westfalen komplett, Rheinland komplett
Prosa, Lyrik, Kritiken, Anthologie
Ja
Olper Straße 7
33647 Bielefeld
0521-9201586
0157-5570658

Arbeitsproben (3)

 

(ohne Titel)

Wir hatten gedacht, dass es leichter würde.
Aber es änderte sich genauso wie immer.
Wir lernten die Wiederholungen kennen,
lieb gewannen sie uns nie.

Du liegst mit einer merkwürdigen Genauigkeit neben den Tagen.
Betrittst sie nicht bleibst
aber in greifbarer Nähe.
Der Körper, der die Seele gefangen hält,
und immerzu in verständnislosen Zeichen spricht.
Du hast dich verloren,
bevor deine Seele Wurzeln schlagen konnte.
Und jetzt treibt dich etwas.
Verbirgt sich in der hohlen Hand.

Ich habe mir einmal geholfen
ein Gedicht zu schreiben,
als es dann endlich zur Welt kam,
duckte ich mich weg,
betrachtete meinen Bauch
und wie die Vögel
einer nach dem anderen
von den Ästen fielen
Sie lachten dabei
Laub segelte hinterher
Ich war so frei
auf den Winter zu warten.  

Während andere hart arbeiten
Skrupulös Wort für Wort prüfen
Klebe ich Wortkörperchen aneinander
Hoffe dass sie schöner scheitern als ich
Mit klaren offenen Gesichtern weinen
Und mit ihren Tränen den Tag füllen
Mit etwas, das auch ich fühlen kann


ANGST

Das Leben gleicht einer Maske. Auf dem Fensterbrett wächst ein Rasen. Alles ist undeutlich, d.h. allzu klar erkennbar. Aber durch Gitterstäbe. Ich bin Franz Biberkopf. Die Figur eines Schriftstellers, der längst tot ist. Ich bin eine Frau. Ich lebe. Das Gefängnis lebt in mir. Die Fantasie ist tot. Die Revolution hat nie stattgefunden. Ich hatte Träume, von denen ich hoffte, sie könnten mich unter sich begraben. Nichts davon ist geschehen. Mir fallen die Haare aus. Vielleicht bin ich krank. Ich bin nicht sicher, welches Jahr wir haben. Welches Jahr mich hat. Jedes Jahr ist ein neuer Gefängniswächter. Keiner sperrt mich ein. Außer meiner Angst. Die von Jahr zu Jahr neue Formen annimmt. Überaus geschmeidig. Wandlungsfähig. Anpassungsfähig. Genügsam. Oder auch unersättlich. Das muss sie nicht kümmern. Logik muss sie nicht kümmern. Folgerichtigkeit. Wahrheit. Alles nicht wichtig. Sie ernährt sich von selbst. Autopoeisis. Selbsterhaltend. Und ich? Die Angst duldet mich, damit sie etwas zu spielen hat.
Ich habe Kinder. Ein Haus. Einen Mann. Sogar einen Beruf. Ich hasse den Beruf. Ich hasse meine Feigheit. Der Beruf ist eine Verkörperung der Feigheit. Die Kinder sind verwehte Versprechen. Ich muss sie frei lassen. Ich weiß nicht, wie das geht. Also ziehe ich mich zurück. Ich bin der kleine Anhänger, den die Diesellok der Angst zieht. Die Geräusche, die sie dabei macht, sind mir nicht einmal unangenehm. Vielleicht nur weil sie vertraut sind. So wie die fliehenden Kinder und der verhasste Beruf. An den Blick in den Spiegel gewöhne ich mich nie. Meine Mutter hat mir als ich ein Kind war von einem wunderschönen Mädchen erzählt, das rote Haare hatte. Niemand sonst im Dorf hatte rote Haare. Vermutlich war auch niemand so schön. Also wurde sie gehänselt. Sie schämte sich. Sie fand sich hässlich. So hässlich, dass sie nie wieder in einen Spiegel sah. Ihr Aussehen wurde von den anderen bestimmt. Der Blick der anderen war das was zählte. Ich weiß nicht, ob meine Mutter Angst hatte. Was Angst für sie war. Sicher hatte sie Angst. Aber das ist nichts, was ich damals, als sie noch lebte, erfahren habe. Sie war wütend, aber viel häufiger als sie wütend war, war sie traurig. Sie war sehr klein. Und sehr einsam. Aber nicht verbittert. Und dann war sie tot.
Ich würde gerne die Geschichte meiner Angst erzählen. Wo sie herkommt. Wohin sie geht. Aber es ist nicht möglich. Man kann nur von Dingen erzählen, die sich bewegen. Meine Angst bewegt sich nicht. Sie ist die Verkörperung des Stillstands. Um sie herum geht alles weiter, vorwärts, rückwärts, im Kreis herum, bergab und bergauf. Aber sie steht still. Manchmal, nein eigentlich immer, habe ich das Gefühl, ich selbst bin meine Angst. Es gibt gar keinen Unterschied zwischen mir und meiner Angst. Meine Angst sorgt für mich. Und ich sorge dafür, dass sie am Leben bleibt. Es ist eine Symbiose. Ich kann nicht ohne sie leben. Sie kann sich jederzeit ein neues Opfer suchen. Manchmal glaube ich mich erinnern zu können, dass es auch anders gewesen ist. Als meine Mutter mir die schrecklichen Geschichten ihrer Kindheit erzählte. Außer dem Mädchen gab es noch einen Jungen, der sich beim Spielen mit dem Bleistift ein Auge ausgestochen hat. Ein Mädchen, dass sein Brüderchen erstickt hat, weil es nicht aufhörte zu weinen. Und die Märchen. Von gemästeten Kindern, die in den Ofen gesteckt werden. Damals war die Angst etwas das sich bewegte, sie kam mit diesen Geschichten, sie kam auch mit der Dunkelheit, der Nacht. Aber sie ging auch wieder. Sie ging, wenn mein Vater mich tröstete, sie ging, wenn die Sonne aufging und die Vögel sangen. Später blieb sie. Ich weiß nicht mehr, wann das war. Oder ich habe Angst, mich zu erinnern.


(ohne Titel)

Als Kind wollte ich einer der sieben Zwerge sein, nie Schneewittchen oder der Prinz. Die Zwerge veränderten sich nicht. Eine Zeitlang mussten sie ihre Teller und Betten mit Schneewittchen teilen, aber alles andere blieb wie es immer gewesen war. Sie arbeiteten im Bergwerk. Sie kamen nach Hause, um zu essen und zu schlafen. Am nächsten Tag gingen sie erneut zur Arbeit. Statt über das Wetter, redeten sie eine Weile über Schneewittchen, die sich erst umbringen und dann heiraten ließ, aber sie führten genau dasselbe Leben. Das schien mir erstrebenswerter als die gewaltigen Veränderungen der anderen Märchengestalten. Und so musste meine Mutter mir immer wieder Schneewittchen vorlesen und ich malte danach die Zwerge. Die Sieben war die erste Zahl, die ich schreiben konnte.
Thomas Bernard hat behauptet, er sei an keinem Ort so glücklich, wie auf der Reise, unterwegs von einem Ort zum anderen. Das habe ich mir gemerkt. Weil es sich so anfühlte wie die Zwerge. Es hat nichts miteinander zu tun, außer dass es mir das gleiche Gefühl vermittelt. Das Gefühl, verstanden zu werden.
Wie immer von Leuten, die lange schon tot sind.
Später, da lebte meine Mutter schon nicht mehr, und ich hatte meine Vorliebe für die Zwerge im Märchen von Schneewittchen vergessen, fragte mich mein eigenes Kind, was das bedeutet: einsam sein.


Elke Engelhardt, geboren 1966 in Verl, lebt und arbeitet in Bielefeld. Seit 2011 Mitarbeit im Feuilleton Fixpoetry, Veröffentlichungen in Jahrbüchern und Anthologien, zwei Gedichtbände. Mitglied in der Bielefelder Autorengruppe und in der neu gegründeten Lyrik-Performance Gruppe L i c h t s t r e u.

2016: Prima Verba Lyrik-Debütpreis
2010: Förderpreis der GWK zur Ausschreibung "Erzähl doch keine Märchen"

100 sehr kurze Gespräche. Elif: Nettetal 2023.
Sansibar oder andere gebrochene Versprechen. Layout: Ümit Kuzuluk. Elif: Nettetal 2020.
Bis der Schnee Gewicht hat. Märchenmotive. Mit Illustrationen von Traian Pop Traian. Pop: Ludwigsburg 2015.

in Anthologien:
Zu Sabine Schiffners eisvogel. In: Moderne deutsche Naturlyrik. Interpretationen. Hrsg. von Hiltrud Gnüg. Reclams Universal Bibliothek: Stuttgart 2016.
In der Stadt in der ich lebe. In: Jahrbuch der Lyrik 2015. Hrsg. von Christoph Buchwald und Nora Gomringer. Deutsche Verlags-Anstalt: München 2015.
Der Vater löscht das Lampenkind. In: Jahrbuch der Lyrik 2011. Hrsg. von Christoph Buchwald und Kathrin Schmidt. Deutsche Verlags-Anstalt: München 2011.
Regen und Kaselowsky, Rotkäppchen und der Wolf. In: Flüsse ausgraben. Literarisches Treibgut aus Bielefeld. Hrsg. von Antje Doßmann. Tpk Regionalverlag: Bielefeld 2011.
Von gläsernen Särgen und tiefen Brunnen. In: Erzähl doch keine Märchen oder Verteidigt jemand Hans im Glück. Neue Kontroversen. Hrsg. von Susanne Schulte und Winfried Wortmann. DuMont: Köln 2010.

in Zeitschriften/Zeitungen (Auswahl):
Meine Schrift schwimmt. In: Dichtungsring, Zeitschrift für Literatur, Heft 57, Frühjahr 2020.
Vier Miniaturen (Nur so, Vertreibung, Möwen, Erde). In: Hammer + Veilchen, Flugschriften für neue Kurzprosa, Das Jahrbuch, 2015.
Weiß. Lyrik. In: 500Gramm. Journal für Literatur und Graphik, Heft 9, Juli 2014.
Hänschen Klein. Prosa. In: Macondo. Edition Zweiundzwanzig, 2010.
Knusperhäuschen. Lyrik. In: manuskripte. Zeitschrift für Literatur, 185/2009.

Beate Tröger: Elke Engelhardt – 100 sehr kurze Gespräche. In: SWR2 lesenswert, 23.01.2024.

Zu: 100 sehr kurze Gespräche

[…] die einer reizvollen Schreibregel folgen. Sie lautet: Ein Satz aus einem fremden Text gibt die Initialzündung für einen eigenen, der auf ihn antwortet und dafür genau 100 Wörter verwenden darf.
Von: Beate Tröger. Erschienen in: SWR2 lesenswert, 23.01.2024.
 
Der Ton ist nuanciert, nie aufdringlich in seiner Intimität. Die Regelhaftigkeit […] bot der Autorin […] Halt und Spielraum gleichermaßen. Es macht Spaß, lesend in diese Symphonie einzustimmen.
Von: Beate Tröger. Erschienen in: SWR2 lesenswert, 23.01.2024.


Elke Engelhardts Gedicht bannt die menschliche Existenz in die Schrift – ein lyrischer Geniestreich! […] so viel Mehrdeutigkeit und Lebensweisheit in knappster Verskunst […], beweist beachtliche Virtuosität.
Von: Björn Hayer. Erschienen in: BÜCHERmagazin, 1/2021.


Zu: Sansibar und andere gebrochene Versprechen

[…] Engelhardts "Sansibar" […] ist in seiner Dürftigkeit und Fehlbarkeit ein tröstlicher Heiligenersatz, wo ein metaphysischer Hintergrund immer fadenscheiniger wird. Kein Zweifel, dieses Buch hat Bestand!
Von: Jürgen Brocan. Erschienen auf: fixpoetry, 07.10.2020.

Für mich ist Engelhardts Sansibar ein beglückendes und Trost spendendes Buch.
Von: Jan Kuhlbrodt. Erschienen auf: Signaturen, 28.08.2020.

Neben Lyrik und Prosa schreibe ich Besprechungen, seit 2012 für die Lyrikplattform Fixpoetry, von 2017 bis 2018 freie Mitarbeiterin beim Lokalblatt "Neue Westfälische".
Von 2018 bis 2019 habe ich beim ersten Seminar für Lyrikkritik im Haus der Poesie teilgenommen und in diesem Rahmen vier Pecha Kuchas angefertigt. Ich versuche beim Schreiben stets Fragen auf vorgefertigte Antworten zu finden, weil Schreiben für mich nur dann bewegend (und damit relevant) sein kann, wenn es selbst in Bewegung bleibt.

Auskunft Autorin

Aktualisiert 27.03.2024