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Johannes Wierz


Johannes Wierz © Nikolas Müller
Johannes Wierz
Bonn
Rheinschiene, Rheinland komplett
Prosa, Lyrik, Thriller/Kriminalroman, Kinder-/Jugendbuch, Funk, Fernsehen, Film, Bühne/Drama, Internet, Sonstige Medien, Satire
Ja

Pressedaten

Erläuterungen und Bedingungen

Pressefotos und Logos zum Download in der Datenbank LITon.NRW

Das Westfälische Literaturbüro in Unna e.V. pflegt im Rahmen der NRW-Literatur-Online-Datenbank LITon.NRW (ehemals www.nrw-literatur-im-netz.de) seit Herbst 2003 eine Foto-Datenbank mit hochauflösenden Fotos von Autor*innen sowie Fotos und Logos von literarischen Institutionen und Projekten aus NRW. Der Service richtet sich an Medien und Literaturveranstalter*innen, die auf diese Weise unkompliziert an Pressefotos und/oder Logos gelangen können. Dieser Service ist (in der Regel) kostenlos. Wenn ein*e Autor*in / eine Institution / ein Projekt Pressefotos bzw. Logos zur Verfügung gestellt hat, ist unter dem jeweiligen Profilfoto das bzw. die entsprechende/n Symbol/e aktiv (anklickbar). Klickt man darauf, klappt bei den Pressefotos ein neues Menü aus, worüber sich das/die Foto/s herunterladen lassen; bei den Logos öffnet sich direkt ein neues Fenster, worüber diese direkt heruntergeladen werden können. Einem Download steht nichts entgegen, wenn die folgenden Nutzungsbedingungen akzeptiert werden:

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Pressebild(er)

Johannes Wierz © Nikolas Müller
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Johannes Wierz © Nikolas Müller
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Arbeitsproben (3)

 

Aus: ZWISCHEN DEN STÜHLEN (Erstes Kapitel)

1.

Meine Frau hat sich von mir getrennt, besser gesagt, ich muss unsere gemeinsame Wohnung verlassen.

Anfangs habe ich ihrer Bemerkung, auf der Stelle die Wohnung zu verlassen, keine Bedeutung geschenkt. Wie oft schon hat sie mir gedroht, mir Unverschämtheiten, Beleidigungen an den Kopf geworfen? Diesmal scheint mir der Grund ohnehin belanglos. Was habe ich denn schon getan?

Eine Erzählung habe ich geschrieben, eine winzige, unbedeutende Erzählung.

Sicher, meine Frau ist eine der Hauptpersonen. Aber wäre da Stolz nicht besser angebracht als Zorn? Außerdem ist meine Frau für ihr manchmal unüberlegtes Verhalten hinlänglich bekannt, wenn nicht sogar berüchtigt. Tem-perament nennen es die Verliebten und können davon gar nicht genug bekommen, was naturgemäß ein riesengroßer Fehler ist, denn wie schnell wird aus Liebe Hass.

Ich weiß zwar nicht ob meine Frau mich hasst, auf jeden Fall hat sie es diesmal mit ihrer Drohung, ich solle auf der Stelle die Wohnung verlassen, ernst gemeint. Zwar hat sie das auf der Stelle, eine Stunde nach unserem Disput, wieder zurückgenommen und daraus einen Monat ge-macht, aber gerade das hätte mich stutzig machen müssen.

 Aber zurück zu meiner winzigen, bedeutungslosen Erzählung. Nicht die Tatsache, dass ich meine Frau als einen barocken Typ skizziert, ihr die unmöglichsten Macken auf den Leib geschrieben habe, ist die Ursache für die plötzliche Kündigung von Tisch und Bett. Nein, ich habe sie am Schluss dieser winzigen und bedeutungslosen Erzählung einfach Sterben lassen, wobei ich mich naturgemäß nicht ausnehme. Ja, auch ich sterbe am Ende der Geschichte, zwar durch die Hand meiner Frau, aber es ist nur ein Unfall, keine böse Absicht habe ich meiner Frau unterstellt. Aber genau das tut sie. Sie wirft mir vor, dass ich sie in aller Öffentlichkeit als Mörderin hinstelle.

Dabei gibt es die Öffentlichkeit ja gar nicht. Niemand hat die Geschichte je gelesen. Sicher, ein paar Bekannten habe ich sie zum Lesen gegeben. Aber jeder weiß doch, wie das ist. Dankend nehmen solche so genannten Be-kannten das Manuskript, für das man sich nächtelang krumm gelegt hat, für das man monatelang gelebt hat, an und versprechen, -Neugier vorheuchelnd -, es alsbald zu lesen.

Ein interessanter Titel, sagen die so genannten guten Bekannten, blättern das Manuskript durch wie ein Telefonbuch und legen es zur Seite. Auf dem Schreibtisch bleibt es vielleicht, wenn es hoch kommt, zwei Tage, dann wandert es auf die Fensterbank. Auf der Titelseite sind deutlich zwei  große braune Kaffeetassenränder zu erkennen. Mittwochs wenn die Haushälterin kommt und in Gedanken verloren, auf der Fensterbank die Blumen gießt, ist es mit der Titelseite vorbei, vielmehr noch, bis Seite zehn ist nichts mehr zu machen. Die Seiten kleben aneinander. Am Abend entdeckt der Hausherr, vielleicht auch erst ein paar Tage später, auf der Heizung mein gewelltes Manuskript. Diesen Anblick kann er naturgemäß nicht ertragen und mein Manuskript wandert in den Schrank, dabei ist es egal um welche Gattung Schrank es sich dabei handelt. Hauptsache weit weg, bloß nicht den Anblick ertragen.

Ich, der Verfasser, werde vertröstet.

"Du, ich glaube, ich muss das noch einmal lesen. Du weißt doch, was momentan bei mir los ist und so zwischendurch, nein, nein, du wirklich, das ist nicht meine Art, du weißt doch, wie ich deine Art zu schreiben, schätze."

Wenn meine Frau behauptet, ich hätte sie in aller Öffentlichkeit als Mörderin hingestellt, hat sie einfach unrecht, - mal abgesehen davon, dass unser gemeinsames Dahinscheiden aus einem Autounfall herrührt. Das Schlimme ist nur, wenn meine Frau im Unrecht ist, dreht

 sie erst so richtig auf. Wenn sie dann auch noch weiß, dass sie im Unrecht ist, bleibt sie stur.

"Auf der Stelle verlässt du unsere Wohnung", hat sie gesagt. Seltsam dabei ist, sie hat es ganz ruhig gesagt. Da ist überhaupt keine Erregung in ihrer Stimme, auch funkelten ihre Augen nicht.

"Auf der Stelle verlässt du meine Wohnung!"

Es ist ja ihre Wohnung. In all den Jahren unserer Zweisamkeit habe ich das total vergessen.

Vor acht Jahren bin ich ja zu ihr nach Hamburg gezogen. Ich bin ja derjenige gewesen, der alles aufgeben, der alle Verbindungen abgebrochen hat. Wobei ich fairerweise zugeben muss, dass es mir zu dem damaligen Zeitpunkt nicht schwer gefallen ist, alles aufzugeben. Ich habe damals einfach meinen kleinen alten Koffer gepackt, meiner lausigen Einzimmerbehausung adieu gesagt und bin nach Hamburg gefahren.

Eine Woche später habe ich endlich begriffen, dass sie es ernst meint. Eine Erkenntnis, die ich den freundlichen Handwerkern zu verdanken habe, die in meinem Arbeitszimmer gerade mit dem Ausmessen meines Zimmers beschäftigt sind, als ich von einem ausgiebigen Spaziergang der Außenalster entlang die Wohnungstür aufschließe. Ich lade alle auf ein Bier ein, wo sie mir die Mo-dernisierungspläne meiner Frau erklärten, in denen ich nicht mehr vorkomme.

Wenn diese freundlichen und trinkfesten Herren mit meinem Arbeitszimmer, das teilweise auch mein Schlafzimmer ist, fertig sind, wird nichts, aber auch gar nichts mehr, in dieser Wohnung an mich erinnern. Meine Frau streicht mich, im wahrsten Sinne des Wortes, aus ihrem Leben.

In dieser Zeit stehe ich oft im Flur, luge durch den kleinen Spalt der Tür ins Wohnzimmer, wo meine Frau sitzt und Musik hört und kämpfe mit mir, hineinzugehen, mich zu entschuldigen und ihr einen neuen Anfang zu versprechen.

Aber wie oft haben wir es schon versucht mit dem neuen Anfang? Im Grunde besteht unsere ganze Beziehung aus neuen Anfängen. Aber ist ein Anfang nicht immer neu? Liegt vielleicht in dieser unrichtigen Bezeichnung das Scheitern unserer Beziehung?

Ich trockne im Flur die Teller ab, sehe durch den Spalt, wie meine Frau ihre Füße hochlegt und gehe nicht hinein.

Wie jeden Abend räume ich das Geschirr in den Schrank, lege das Handtuch über die Heizung und gehe in mein Arbeitszimmer, das mir, nachdem die freundlichen und trinkfesten Handwerker gegangen sind, fremd vor-kommt. Wenn ein Zimmer eine Seele hat, dann würde meines mich gerade auslachen, denke ich. Dabei wird sich mein Arbeitszimmer noch nach mir zurücksehnen.

Nach den Plänen meiner Frau wird man den Teppichboden herausreißen und Parkettboden verlegen. Decke und Wände werden gestrichen, nicht zu vergessen die Tür, die Fenster und die Fußleisten. Mit der Ruhe wird es dann vorbei sein.

Ja, mein Zimmer wird sich noch nach mir zurücksehnen. Acht Jahre Ruhe und Behaglichkeit, das kann auch ein Zimmer nicht einfach so abstreifen. Aus meinem Zimmer soll das Esszimmer werden. Eine Tatsache, die mich am meisten kränkt.

Die Vorstellung meine so genannten guten Bekannten werden hier ein und ausgehen, sich den Bauch voll schlagen und sich mit einem Zahnstocher im Mund, nach meinem Verbleib erkundigen, treibt mir die Zornesröte ins Gesicht.

"Übrigens, ich habe da noch ein Manuskript von Deinem Ex, soll ich es wegschmeißen?"

Drei Wochen habe ich jetzt also noch Zeit meine Habseligkeiten zu packen. Nachts liege ich auf meinem Bett und denke nach. Mir fällt beispielsweise eines Nachts die Geschichte eines Handwerkers ein, der, nachdem man ihn um seinen wohlverdienten Lohn gebracht, in das Mauerwerk vor dem Verputzen noch ein rohes Ei eingebaut hat. Da sich der Gestank erst nach ein paar Wochen so richtig entwickelt, ist es für den Hausherren unmöglich, nachdem die ganze Wohnung verputzt und tapeziert worden ist, herauszufinden woher der Geruch stammt. Vorstellen kann ich es mir schon, aber dabei belasse ich es denn auch.

Nein, ich will mich von meiner Frau, wenn es denn sein soll und muss, in aller Freundschaft trennen.

Da meine Frau den ganzen Tag arbeiten geht, habe ich genug Zeit, meine Sachen zu ordnen. Eine ganze Menge ist da in den letzten acht Jahren zusammengekommen. Allein drei große Regale voller Bücher stehen in meinem Arbeitszimmer.

"Ein Schriftsteller braucht Bücher", hat meine Frau gesagt.

Sicher, sie hat es immer gut gemeint, wenn sie Taschen voller Bücher angeschleppt hat. Ihr Auswahlkriterium ist immer ein sehr einfaches gewesen. Sie hat sich einfach an den Bestsellerlisten orientiert. Diese Art von Büchern stehen meist an der Kasse der großen Buchläden, schön nach Platzierungen sortiert. Nur die wenigsten dieser Bücher habe ich gelesen. Was beispielsweise soll ich mit drei Bänden Das magische Auge anfangen?

Eines jedoch ist klar, mit meinem kleinen Koffer werde ich diesmal nicht auskommen.

"Entschuldige, meine Liebe, aber weißt du, wo mein kleiner Koffer abgeblieben ist?"

Der ist vor vier oder fünf Jahren auf den Müll gelandet. Da wo er hingehört!

Selbstverständlich übernehme ich alle Kosten, die mit Deinem Umzug zusammenhängen."

Schweigend verlasse ich das Wohnzimmer, gehe in mein Arbeitszimmer, setze mich an meinen Schreibtisch und schaue aus dem Fenster. Ohne ein einziges Blatt an seinen Ästen steht er da, mein Nussbaum. Das Ärgernis für die ganze Nachbarschaft und meine Freude. Was wird er wohl ohne mich machen?

Wenn wir dieses Jahr wieder so einen heißen Sommer bekommen, sieht es nicht gut aus für meinen treuen Freund. Die Nachbarn werden sich freuen, wenn er ein-geht. Mehrmals habe ich unter seinem kleinen Stamm, direkt an der Wurzel, Streusalz gefunden. Ob ich doch noch mit meiner Frau reden soll?

Nein, auch ich habe meinen Stolz. Wenn sie mich unbedingt loswerden will, dann bitte. Sie wird schon sehen, was sie davon hat. Den ganzen Haushalt habe ich für uns beide geschmissen. Da wird sie sich noch umschauen.

Dennoch bin ich am nächsten Tag in das Computer- und Kopiergeschäft in meiner Nachbarschaft gegangen und habe um Kartons nachgefragt. Der Besitzer, ein Ägypter, verspricht mir, ab sofort Kartons für mich zu sammeln. Dabei macht er ein trauriges Gesicht. Denn irgendwie, obwohl wir nie viel miteinander geredet haben, sind wir Freunde geworden. Oft, wenn mir am Nachmittag langweilig gewesen ist, bin ich zu ihm hinübergegangen und wir haben ein paar Runden Backgammon gespielt.

Zwei Wochen vor Ablauf des Ultimatums stapeln sich schon eine ganze Menge Kartons in meinem Arbeitszimmer, was nach unserem Disput, wegen dieser lächerlichen winzigen bedeutungslosen Erzählung, endgültig auch mein Schlafzimmer geworden ist.

Ich bin gerade dabei den ersten Karton mit meinen Habseligkeiten voll zu stopfen, da klopft es an meine Tür.

"Darf ich hereinkommen?", höre ich die Stimme meiner Frau fragen.

Zusammen mit einer hochgewachsenen Afrikanerin betritt sie mein Arbeitszimmer. Eine wirklich hübsche Person, die sich später als meine Nachfolgerin in punkto Haushaltsführung herausstellen wird. In den nächsten zwei Wochen soll sie mir über die Schultern schauen, damit der Übergang auch nahtlos klappt.

Ich bin wirklich ein Gemütsmensch, aber was zuviel ist, ist zuviel. Erst als meine Frau mir erklärt, dass sie sich nicht scheiden lassen will und sie selbstverständlich für meinen Unterhalt aufkommt, beruhige ich mich langsam. Ich habe nichts dagegen, dass sie mich weiter steuerlich absetzt.

"Und was ist, wenn du wieder heiraten möchtest?"

"Glaub mir, ich habe die Schnauze voll von Männern. Und was ich brauche, nehme ich mir."

Weitere Fragen zu stellen, halte ich für unnötig.

Sie meint es also wirklich ernst.

Im Grunde kann ich es ihr ja auch nicht verübeln.

Ich bin nun mal für eine Partnerschaft einfach nicht geschaffen. Den höchsten Grad an Glückseligkeit erreiche ich nur, wenn ich allein bin. Stundenlang kann ich beispielsweise allein spazieren gehen. Zusammen mit meiner Frau mache ich nach zehn Minuten schlapp, vor allem dann, wenn sie sich auch noch bei mir einhakt oder gar den Arm um meine Schultern legt.

Auch habe ich immer das Gefühl, überhaupt nichts wahrzunehmen, wenn jemand neben mir hergeht. Aber immerhin ist es acht Jahre lang gut gegangen.

Meine Frau ist ihrem Beruf nachgegangen und in meiner Zeit so manche Sprosse auf der Karriereleiter nach oben gestiegen. Ich habe derweil am Schreibtisch gesessen und versucht, meine Gedanken zu Papier zu bringen. Lange Spaziergänge habe ich unternommen, unter dem Arm Päckchen mit Manuskripten, die ich in den verschiedensten Postämtern von Hamburg aufgegeben habe, in der Hoffnung alsbald von der großen Literaturwelt wahr-genommen zu werden. Acht Jahre sind jetzt vorbei und es ist immer noch nichts passiert. Wäre mein Arbeitszimmer nicht so voll gestopft mit Sachen, die ich jetzt versuche in die Kartons zu stopfen, ich hätte schwören können, gestern erst in Hamburg angekommen zu sein.

Erst wenn ein Schlussstrich gezogen wird, merkt man, wie schnell die Zeit vergangen ist.

Eine Woche dauert es, bis ich mein Arbeitszimmer in die Kartons verstaut habe.

Da stehe ich nun in dem Raum, der mir acht Jahre lang Heimat gewesen ist, und starre auf die leeren Regale. Das Aussortieren habe ich schon nach einem halben Tag aufgegeben. Reine Zeitverschwendung sich zu überlegen, was man mitnimmt und was nicht. Meine Frau wird ohnehin alles wegschmeißen. Ein Karton mehr oder weniger, darauf kommt es jetzt wirklich nicht mehr an.

"Weißt du eigentlich schon, wo du hinziehen willst?", fragt mich meine Frau, die mich zum Abendessen in ein gutes Speiserestaurant eingeladen hat.

Über diese Frage habe ich wirklich noch nicht nachgedacht. Ich habe sie einfach verdrängt. Wahrscheinlich werde ich zurück an den Rhein ziehen, da habe ich noch ein paar Freunde, besser gesagt einen Freund.

Acht Jahre Hamburg und keinen einzigen Menschen kennen gelernt, der es wert wäre, da zu bleiben. Das muss mir erst einmal wer nachmachen. Wie schon gesagt, ich bin halt gerne allein. Aber wenn ich ehrlich bin, bin ich schon erstaunt darüber, dass ich in den ganzen acht Jahren niemanden kennen gelernt habe.

Die so genannten guten Bekannten meiner Frau, die mit den Jahren auch zwangsläufig zu meinen so genannten guten Bekannten geworden sind, kann man allesamt vergessen: In der Milch der Oberflächlichkeit schwimmendes Gesindel, Aasgeier meiner Zeit.

Anfangs habe ich ja noch gedacht, als meine Frau mich als ihren Mann bei ihren so genannten guten Bekannten vorstellt hat, ich könne diese wenigstens zu Studienzwecken nutzen, den einen oder anderen so genannten guten Bekannten sogar in eine meiner kleinen unbedeutenden Erzählungen einbauen. Aber dieses Hamburger Gesindel hat mich sprachlos gemacht. Sobald ich mit ihm zusammengekommen bin, habe ich meine Sprache verloren. Ich bin nur da gesessen, habe auf die geschwätzigen Münder geschaut und bin fassungslos gewesen. Kein Thema ist ihnen fremd gewesen, auf alles haben sie eine Antwort parat. Da ist zwischen den Menügängen analysiert und seziert worden. Alles in einem rasenden Tempo, dass mir meist erst tief in der Nacht klar geworden ist, was für ein Blödsinn aus den fettigen Mündern der so genannten guten Bekannten gesprudelt ist. Wenn ich in meiner Sprachlosigkeit, nach langem Suchen, endlich wieder Wörter gefunden gehabt habe, ist die Versammlung der so genannten guten Bekannten längst aufgelöst gewesen.

"Du hättest ruhig auch mal was sagen können", hat meine Frau meine Unfähigkeit in aller Regelmäßigkeit kommentiert, eine abwertende Handbewegung gemacht und mich einfach allein zurück gelassen.

Die so genannten guten Bekannten werden auch von meinem Auszug gewusst haben, bevor meine Frau über-haupt die Möglichkeit erwogen hat, mir den Stuhl vor die Tür zu setzen, denke ich beim Betrachten des leeren Arbeitszimmers.

Wieder das Gefühl von Heimat. Immer dann Heimat, wenn ich gehen muss. Das Gefühl zwischen den Stühlen zu sitzen, wird es in einer Woche nicht mehr geben. In einer Woche wird man mir den Stuhl vor die Tür stellen und wenn ich nicht aufpasse, werde ich ganz schön fallen.

Eine Woche Zeit, und ich habe immer noch keine neue Wohnung, kein Ziel, keine Perspektive auf etwas.

Im Grunde ist es ja egal, was ich mache, nur ein Stuhl muss vorhanden sein, ein neuer stabiler Stuhl. Etwas eben, was da steht, schon immer da gestanden hat. Ein Stuhl mit vier Beinen, viermal Bodenkontakt. Mit dem man wippen kann, ohne umzukippen, wo man sich dazwischen setzen kann, ohne auf den kalten Boden zu fallen. Einen Stuhl, meinen Kärntner Stuhl werde ich immer mit mir herumschleppen. Ohne meinen Kärntner Stuhl wäre wahrscheinlich auch gar nicht so viel passiert, hätte ich längst

einen Beruf, würde nur auf einem Stuhl sitzen und funktionieren. Der Kärntner Stuhl aber, dem ich das Sitzen zwischen den Stühlen zu verdanken habe, lässt mich nicht zur Ruhe kommen, bestärkt mich in meinem Tun, gibt mir Sicherheit, dass es noch einen weiteren Stuhl gibt, - zwar andersartig -, auf den ich mich setzen, vielleicht aber auch nur abstützen kann, um eben zwischen den Stühlen zu sitzen. Eine Woche Zeit, um einen zweiten Stuhl zu finden.

Ein deutscher Stuhl sollte es schon sein, wo doch schon mein Kärntner Stuhl wackelt, immer gewackelt hat. Hat ja auch schon mein Großvater drauf gesessen, wie Generationen vor ihm. Der Kärntner Stuhl wackelt halt, würde gerne nach rechts fallen, fällt aber nicht, wird nie nach rechts fallen, auch wenn andere es behaupten oder es sogar angeblich immer schon gewusst haben, wie bei-spielsweise die Hamburger so genannten guten Bekannten.

Eine Woche Zeit, um einen neuen Stuhl zu finden. Gerade genug Zeit, um auf Altbewährtes zurückzu-greifen.

Wenn schon der Hamburger Stuhl, und daran ist es ja letztlich gescheitert, so fest auf dem Boden gestanden ist, muss jetzt ein wackeliger her, um wieder in Balance zu kommen.

Ich liege auf dem Bett, starre abwechselnd auf die Umzugskartons, die eigentlich Computer- und Fotokopierpapierkartons sind, und die Decke, die mir lieb geworden war, deren Schattengebilde, hervorgerufen durch Autoscheinwerfer, die für einen kurzen Moment mein Zimmer erhellen, mich zu den ungeheuerlichsten Phantasien angeregt haben. Nordpolforscher, Sternen-taucher, Hochseilartist in den Höhen des Unmöglichen.

Neben mir liegt das kleine Büchlein mit den Adressen, aber da steht nicht mehr viel drin. Die meisten Adressen haben ihre Gültigkeit verloren. Da ist geheiratet, umgezogen worden, um sich beruflich zu verbessern. Nein, da

ist nicht sehr viel, was sich da in meiner handgeschriebenen Datenbank befindet. Die meisten Adressen durch-gestrichen, auch gibt es Fragezeichen hinter den Namen oder neue Telefonnummern, die wiederum auch schon von mir durchgestrichen worden sind.

So reißen eben Kontakte ab. Vor allem, wo es anscheinend Mode geworden ist, eine Geheimnummer zu beantragen.

"Kein Anschluss unter dieser Nummer!"

"Bitte rufen Sie die Auskunft an!"

Das Adressbüchlein hat nicht viel Auswahl hinsichtlich eines neuen Stuhls.

Eine Frau kann ich in meiner momentanen Situation auf keinen Fall anrufen. Frauen sind zwar in meinem bisherigen Leben oft die letzte Rettung gewesen, leider aber auch Sackgasse bis hin zum Martyrium.

Es ist schlimm genug, nach acht Jahren gemeinsamer Wohnung, nach immerhin acht Jahren gemeinsamen Lebens, feststellen zu müssen, dass man sich eben getäuscht, sich permanent belogen hat, es würde sich um eine gemeinsame Wohnung handeln. Wo doch alle Welt weiß, vor allem die so genannten guten Bekannten es längst wissen, es immer schon gewusst haben, dass die gemeinsame Wohnung, immer nur die meiner Frau gewesen ist.

Ich bin damals vor acht Jahren zu ihr gezogen, habe ein Zimmer, das sie im Vorfeld hat leer räumen lassen, zur Verfügung, zur freien Nutzung, sozusagen, zugeteilt bekommen.

In dem Moment, als ich das Zimmer, das mir meine Frau zur Verfügung gestellt hat, als mein Zimmer ange-nommen hatte, hier sogar angefangen habe zu schreiben, - selbst der für meine Frau und mich tödlich ausgegangene Autounfall ist hier entstanden -, ist es vorbei mit dem Hamburger Stuhl.

Einbildung, Selbstüberschätzung, ja Unsinn das Ganze, je von meinem Arbeitszimmer, meinem Raum gesprochen zu haben.

Es ist ein auf Zeit mir zugeteilter Raum gewesen.

"Ich bin ein Baum", habe ich zu meiner Frau gesagt, zu einem Zeitpunkt, wo alles längst entschieden ist, die Handwerker bestellt, die Tapete und das Parkett ausge-sucht worden sind.

"Du und ein Baum", hat sie gesagt und dabei angefan-gen, zu lachen.

Es ist kein Lachen aus Freude. Ein verächtliches Lachen ist das. Ein Lachen, das ich seit acht Jahren kenne und das mir immer noch durch Mark und Bein geht.

Ein monsterhaftes Lachen ist das, das die Gesichtszüge meiner Frau bis zur Unkenntlichkeit entstellt.


Aus: IN EINER NEBENSTRASSE (Erstes Kapitel)

ERSTER TAG

1.

Es war ein kühler Spätsommermorgen, als der achtzigjährige Schreinermeister Frederik mit seinem Reisigbesen die Gosse von ersten welken Blättern befreite. Immer wieder richtete er sich auf, hielt sich am Besen fest und betrachtete sein zweistöckiges Haus, Lohn eines harten, über sechzigjährigen Arbeitslebens.

In der Mansardenwohnung brannte bereits Licht. Rainer Demuth war nach ihm der erste, der um Punkt 6.00 Uhr aufstand, wie jeden Tag. Pflichtbewusst vom Scheitel bis zur Sohle, dachte Herr Frederik nicht ganz ohne Wehmut, denn seine Tochter, die über ihm wohnte, war mit ihren fünfundvierzig Jahren immer noch nicht verheiratet. Rainer Demuth war einundfünfzig, ledig und Chefprogrammierer der größten Versicherung der Stadt, die erst vor kurzem von einem schweizerischen Konsortium aufgekauft worden war. Er trank nicht, rauchte nicht und führte auch sonst ein unauffälliges, solides Leben.

Frederik paffte genüsslich an seiner Zigarre, eigentlicher Grund seines frühmorgendlichen Tuns. Letztlich konnten die Blätter in der Gosse und auf dem Gehsteig meterhoch liegen, doch auf seine morgendliche Zigarre, diese ungestörte blaue halbe Stunde eines beginnenden Tages, wollte er auf keine Fall verzichten. Im ganzen Haus, eingeschlossen Garten und Vorgarten, herrschte striktes Rauchverbot. Seine Frau, deren Schlafzimmer nach hinten heraus ging, hätte dieses Verbot am liebsten auf die ganze Stadt ausgedehnt. Zum Glück schlief sie noch, was dem anbrechenden Tag einen Hauch von Freiheit verlieh.

In der kleinen Nebenstraße, die von einer größeren, zweispurigen Straße abzweigte, befanden sich auf Herrn Frederiks Seite achtundzwanzig Häuser, auf der Gegenseite sechsunddreißig, meist zwei- bis dreistöckige Mietshäuser, mit Ein- bis Dreizimmerwohnungen. Die schöneren Häuser mit gepflegten Vorgärten und adrettem Fassadenanstrich: das war seine Seite. Aber mittendrin in dieser Idylle von Gartenzwergen, Silberkugeln und grünlackierten Fensterläden klaffte ein großes Loch. Hier hatte über hundert Jahre lang eine große Schreinerei gestanden, die ein Bulldozer in zwei Tagen abgerissen und Platz für mindestens acht Häuser geschaffen hatte: ein Millionenvermögen, in einer nach Wohnraum lechzenden Stadt.

"Beste Wohngegend, vor allem wo ihre Schreinerei nicht mehr da ist. Der zukünftige Herr Bräutigam ist wirklich zu beneiden", hatte ihm der Notar gesagt, als er den Schriftsatz aufsetzte, der Frederiks Tochter im Fall ihrer Heirat als Alleinbegünstigte für das Grundstück bestimmte.

Da immer noch kein Mann in Sicht war, musste zweimal im Jahr eine Gartenbaukolonne anrücken, um das plattgewalzte Grundstück von meterhohem Unkraut zu befreien.

Zu seiner Zeit, dachte Herr Frederik, hätten die Männer Schlange gestanden, um bei ihm um die Hand seiner Tochter anzuhalten. Aber die Zeiten hatten sich geändert. Sicher war sein einziges Kind nicht gerade eine Schönheit, aber hätte das früher irgendjemanden interessiert? Damals spielten im Leben ganz andere Werte eine Rolle. Heutzutage dagegen, ja, da musste alles grell und ausgefallen daherkommen, schick musste es sein. Das hatte er nicht zuletzt am eigenen Leib zu spüren bekommen.

Auf der großen Hauptstraße, die den Stadtteil hier durchtrennte, hatte es einst acht Gaststätten gegeben. Und jede von Ihnen hatte Herr Frederik als Besitzer der Schreinerei gern besucht, es war seine Art der persönlichen Kundenbetreuung gewesen. Mit Kaffee und einem Likör, meist einem Kosakenkaffee, hatte er am unteren Ende im Lindenhof angefangen und spät am Abend im Lachenden Eck mit einer Frikadelle und einem letzten Bier aufgehört.

Während der Ölkrise in den siebziger Jahren hatte das große Kneipensterben begonnen, was zur Folge hatte, dass die vielen kleinen Brauereien der Stadt fusioniert hatten und am Ende nur noch eine große mächtige Brauerei übrig geblieben war - die wiederum ein paar Jahre später von einer größeren Aktienbrauerei geschluckt wurde. Aus den restlichen vier Gaststätten mit warmer Küche hatten sich zwei in dubiose Studentenkneipen verwandelt, deren äußeres Erkennungszeichen darin bestand, dass die Fenster mit brauner Farbe überstrichen waren. Allerdings stieg zeitgleich die Nachfrage nach unbehandelten Hölzern niedriger Wahl, am besten noch mit Rinde und vielen Astlöchern, so dass Frederik seinen Betrieb um eine Holzhandlung erweitert hatte.

Wegen der Studenten, die plötzlich die Hauptstraße bevölkerten, hatten zwei Metzgereien, fünf Einzelhandelsgeschäfte, der Schuster, die Glaserei, drei Bäckereien, ein Hut- und Schirmmacher, die Schneiderei und das Fotogeschäft mit eigenem Atelier schließen müssen. Die leerstehenden Geschäfte erfuhren dann rasch die übliche Verwandlung, äußeres Kennzeichen: braungestrichene Fenster.

Bis es Ende der siebziger Jahre auf der Hauptstraße acht neue Kneipen, fünf Trödelläden und zwei Fotokopierläden gab.

Für Herrn Frederik waren nur zwei Lokale übrig geblieben, in denen er - auch er erlag den Veränderungen - einen Schoppen Wein trank und dazu ein Käsebrot mit daumendickem Gouda verzehrte, auf dessen stumpfer gelblicher Oberfläche in der Mitte wie ein aufgebahrter Leichnam eine Salzstange gelegen hatte, berieselt mit Neuschnee aus Rosenpaprika. Herr Frederik hatte es geschafft, auf zusätzlichen drei Zwiebelringen zu bestehen, die Anfang der achtziger Jahre schon nicht mehr selbstverständlich waren.

Jetzt, zwanzig Jahre später, gab es überhaupt keine bürgerliche Kneipe mehr, in die er sich setzen konnte. Dafür gab es zwei Bäckereiketten mit Bistrobereich und zwei Kebabbuden und einen Gyrosimbiss, in denen man einen alten Mann wie ihn gern als Gast bediente.

Während sich alles in der Welt pausenlos veränderte, hatte Herr Frederik das Gefühl, dass in seinem Haus alles beim Alten geblieben war. Sämtliche Möbel, mit Ausnahme der Küche und des Fernsehschranks, waren aus den fünfziger Jahren. Auch die möblierte Wohnung, in der sein Mieter lebte, war aus dieser Zeit.

"Ich mag es solide", hatte Rainer Demuth bei der Besichtigung gesagt und für zwei Monate im Voraus die Miete bezahlt, obwohl es in den engen Räumen so stickig war, als ob dort jahrelang nicht mehr gelüftet worden wäre. Dafür war selbst in der Küche alle vorhanden: Töpfe, Geschirr und Besteck. Sogar ein Abtropfsieb stand auf der Ablage der Keramikspüle.

"Sie müssen nicht selbst kochen", hatte Herr Frederik Herrn Demuth nicht ohne bestimmte Absichten zum Einzug gesagt, "meine Frau und meine Tochter sind ausgezeichnete Köchinnen."

Dabei hatte er wie zum Beweis seinen gewaltigen Bauch herausgestreckt. In all den Jahren, in denen Demuth nun in diesem Haus wohnte, hatte er dieses kulinarische Angebot jedoch kein einziges Mal für sich in Anspruch genommen. Aber auch die eigene Küche schien der Untermieter nicht zu nutzen, denn in dem Hausmüll, den Demuth einmal die Woche unten in die Mülltonne warf, befanden sich seltsamerweise keinerlei Essensreste.

Die Zigarre war bis zur Hälfte herunter geraucht, da öffnete sich unten die Tür, und Demuth verließ, zusammen mit seinem dunkelgrauen Herrenrad, das Haus. Die dünnen rötlichen Haare zur Seite gekämmt, die frischpolierten Brillengläser, die seine Augen riesengroß erscheinen ließen, auf der Nase. Der braune Anzug sowie das blaue Hemd mit brauner Krawatte, ließen ihn als Einzelgänger erscheinen, der keinerlei Modetrends unterlag.

Herr Frederik grüßte freundlich, winkte mit seiner glimmenden Zigarre und wünschte einen guten Tag, während Demuth damit beschäftigt war, den Schlag seiner Hose, den eine Bügelfalte akkurat durchzog, auf die Seite zu legen, um die Fahrradklammer anzulegen. Wie jeden Morgen klingelte er einmal und fuhr mit gleichmäßigen Tritten auf die Hauptstraße zu.

Herr Frederik paffte weiter an seiner Zigarre und stützte sich auf den Besenstil. Dabei beobachtete er den Zeitungsboten, der nun endlich auch sein Haus erreicht hatte.

"Mal wieder spät dran, was?", nuschelte Frederik mit der Zigarre im Mund. Der Bote hingegen grüßte freundlich im Vorbeigehen, als hätte er ihn nicht verstanden.

Herr Frederik stellte den Besen zwischen die Mülltonnen, richtete seinen Schreinerkittel und begab sich Richtung Hauptstraße, auf der der Berufsverkehr inzwischen zugenommen hatte. Die Hände auf dem Rücken schlenderte er paffend die Straße hinunter. Er ließ sich Zeit dabei, denn vor 7.00 Uhr würden die Großbäckereien ihre Filialen nicht beliefert haben.

Früher, ja früher, da konnte er um 5.30 Uhr bei seinem alten Freund Blum durch die Hintertür in die Backstube gehen und sich ein warmes Brötchen aus dem handgeflochtenen Weidenkorb nehmen, dachte er während seines Spaziergangs.

"Handwerk hat goldenen Boden" stand auf der Stickerei, die neben dem großen Backofen hing. Die Keramikverschlüsse der Bierflaschen ploppten und man prostete sich zu. Sechs Angestellte hatte der Blum und das in nur einer Bäckerei.

Wahrlich, goldene Zeiten. In der Schreinerei Frederik hatten in den sechziger Jahren bis zu achtundvierzig Menschen gearbeitet. Er selbst stand damals seiner Innung vor und war Mitglied der Industrie- und Handelskammer gewesen. Lehrlinge, Gesellen, bis zu acht Leute wohnten in seinem Haus. Nichts hatte er ihnen dafür berechnet, sie mussten nur ab und zu an den Wochenenden die Werkstatt aufräumen und die Firmenwagen putzen. Für den damals ansässigen Fußball- und Handballverein hatte er die Trikots bezahlt und für die Renovierung der Kirche einige große Scheine in den Klingelbeutel gelegt. All das hatte er nie an die große Glocke gehängt. Nein, er war eher ein Mann der leisen Töne. Es sei denn, es wurde Karten gespielt oder auf der Kegelbahn Runden ausgeworfen. Auch im Männergesangsverein hatte er mit seinem kräftigen Bass so laut werden können, dass die Tenöre irritiert zu ihm herüber schauten und der schwäbische Chorleiter Schäufle mit seinem Stöckchen, das Frederik in seiner Schreinerei von Hand angefertigt hatte, abklopfen musste. Der Blum und der Schäufle, was hatten die saufen können: standfest bis zur Haustür. Und wenn dann noch der Metzgermeister Tarnat für eine Lokalrunde sein künstliches Auge auf den Tisch gelegt hatte - worauf die Bedienung jedes Mal ihr Tablett fallen ließ - war die Stimmung kaum noch zu bremsen gewesen.

Versunken in seine Erinnerungen, schritt Herr Frederik, die Hände auf dem Rücken, paffend die Hauptstraße entlang und atmete den herrlichen Duft seiner Zigarre ein.

*

Rainer Demuth ließ sein Fahrrad auf dem großen Parkplatz vor dem Versicherungsgebäude ausrollen. Wie an jedem Arbeitstag war er eine Viertelstunde zu früh. An einem dafür vorgesehenen Gitter sicherte er mit einer schweren Eisenkette sein Fahrrad und betrat über die große Granittreppe den gewaltigen Verwaltungskomplex. Der Empfang mit seinen vielen Kontrollmonitoren war unbesetzt. Auf dem dritten von links konnte er sich in einem blaugrauen Licht über den polierten Marmorboden gehen sehen. Eine gefährlich glatte Oberfläche, auf der schon so manche weibliche Mitarbeiterin ausgerutscht war. Wie gut, dass er sich mit Haftungsfragen nicht auseinanderzusetzen hatte. Er betrat den Aufzug und holte einen Schlüssel aus seiner Hosentasche, der mit einer versilberten Kette an der Gürtelschlaufe gesichert war, und steckte ihn in das Schloss. Dann drückte er auf den blinkenden Knopf. Mit einem leichten Ruck setzte sich der Aufzug in das dritte Untergeschoss in Bewegung, zu dem nur wenige autorisierte Personen Zutritt hatten.

"Hier sitzt das Herz der Versicherung", wie sein Vorgesetzter immer zu sagen pflegte, wenn er Mitglieder des Vorstandes durch die unendlich scheinenden Gänge führte. Vorbei an Panzerglaswänden hinter denen sich klobige Kästen befanden, an denen kleine Diodenlampen in verschiedenen Farben flackerten. Seinem Vorgesetzten sowie den oft wechselnden Mitgliedern des Vorstands, die nicht die geringsten Kenntnisse besaßen, wie so ein komplexer Rechner funktionierte, und nur das große Ganze im Augen hatten, gaben diese kleinen blinkenden Lämpchen das Gefühl, dass im Herzen ihres Konzerns auch gearbeitet wurde. Eine der größten Rechneranlagen des Landes als Herz zu bezeichnen, wäre sicherlich eine philosophische Betrachtung wert gewesen, aber Demuth dachte nicht daran, sich von solchen Gedanken aufs Glatteis führen zu lassen. Tatsache war, dass er jeden Tag achteinhalb Stunden in einem Tiefkeller verbringen musste, der weder Tageslicht noch Außenluft hereinließ.

In der Anfangszeit hatte er sich oft in den Weltraum geträumt, wenn er die neonlichtdurchfluteten, endlos scheinenden Gänge der Versicherung durchschritten hatte. Aber das lag nur daran, dass er im Kino einen Film von Stanley Kubrik gesehen hatte. Die Abende verbrachte er immer zu Hause. Er liebte es, alle Fenster seiner Mansardenwohnung zu öffnen, in den Sternenhimmel zu starren, ohne dabei wirklich Wesentliches zu denken. Über die Antenne seines Weltempfängers empfing er auf Kurzwelle Signaltöne, die so schwach klangen, als kämen sie vom anderen Ende der Welt.

Rainer Demuth betrat sein Büro, das einem Irrtum gleichkam. Jede Toilette, selbst die Abstellkammern des Reinigungspersonals, waren größer, in diesem gigantischen Koloss aus Stahl, Beton und Glas, der mehr als achthundert Menschen einen Arbeitsplatz bot. Als Chefprogrammierer stand ihm eigentlich das große Glasbüro - von allen nur Aquarium genannt - am Ende des Mittelgangs gegenüber dem Aufzug zu. Aber nichts war ihm mehr zuwider, als beobachtet zu werden. Im Unscheinbaren lag seine Kraft. Fast immer wurde er bei internen Feiern, wie Geburtstagen oder Ausständen, einfach in seiner Kammer vergessen, was er durchaus nicht als unangenehm empfand. Er konnte dem Kollektiv an aufgesetzter Fröhlichkeit nichts abgewinnen. Freunde hatte er unter den Kollegen sowieso nicht, mit Ausnahme vielleicht von Patzek. Mit Patzek hatte er immerhin schon mehre Male den Kantinentisch geteilt. Auch war er einmal dessen Einladung gefolgt, mit ihm einen Freitagabend zu verbringen. Aus reiner Neugier hatte er die Bitte nicht ausgeschlagen und war mit ihm von einer Kneipe in die nächste gezogen, bis man letztendlich in einem Klub gelandet war, in dem die Mädchen leicht bekleidet waren und außer Champagner nichts zu sich nahmen. Demuth war sich auch an diesem unsäglichen Abend treu geblieben und hatte nur stilles Wasser getrunken, obwohl der Preis dafür um ein vielfaches höher war als anderswo. Hinzukam, dass in dieser Lokalität das stille Wasser direkt aus dem Wasserhahn abgefüllt wurde. Er hatte es mit Gleichmut genommen. Patzek aber hatte Champagner bestellt und gleich zwei zierlichen Osteuropäerinnen an den Hintern gepackt und war anschließend mit den Damen hinter Glasperlen-vorhängen verschwunden. Demuth hatte keinerlei Interesse an dieser Art von Unterhaltung gezeigt. Eine Stunde später war Patzek in Unterhosen und in Begleitung eines kräftigen, hochgewachsenen Albaners wieder aufgetaucht und hatte ihn um Hilfe gebeten. Demuth sollte ihm für einen kurzen Moment die Kreditkarte leihen, was er auch ohne Zögern getan hatte. Am Ende des Monats stand es schwarz auf weiß auf seinem Kontoauszug: Patzek war ihm tausendfünfhundert Euro schuldig.

"Mensch Alter, ich steh fest in deiner Schuld", hatte Patzek zu ihm gesagt. Er hatte nur stumm genickt und ihn beim Wort genommen. Eine innige Umarmung, sogar Küsse rechts und links auf die Wange und das Versprechen, solch einen tollen Abend doch alsbald zu wiederholen, folgten. All das erinnerte ihn jetzt an das große Rundschreiben der Geschäftsleitung von Anfang Oktober, in dem es hieß, dass man in diesem Jahr auf das Weihnachtsgeld verzichten müsse, dafür aber Vorzugsaktien zum halben Preis erwerben könne.

"In weniger als zehn Jahren bin ich Millionär", hatte Patzek gesagt und ihm voller Stolz seine Zeichnungen präsentiert. Demuth hingegen hatte als einer der wenigen Mitarbeiter des großen Versicherungskonzerns keine Aktien erworben.

Demuth schaute auf die Uhr, die exakt 7.00 Uhr anzeigte, der Tag konnte also beginnen. Ähnlich ging es dem achtzigjährigen Herrn Frederik, der seinen Gang längs der Hauptstraße beendet hatte und nun mit einer Tüte industriell hergestellter Brötchen und zwei Schnäpsen intus, den Heimweg antrat. 7.00 Uhr zeigten auch die großen Zeiger der Normaluhr an der Bushaltestelle. In diesem Moment war seine Frau - zehn Jahre jünger als er -aufgestanden, hatte die Fenster und die Holzläden geöffnet und zu den Klängen von Max Greger mit lächerlichen Rumpfbeugen, Hals- und Beckenkreisungen begonnen. Sieben Minuten würde dieses alltägliche Ritual dauern, dann würde er die Haustür aufschließen und wie all’ die Jahre zuvor den sinnentleerten Satz "Ich bin wieder da!" in den Hausflur schmettern.

*

Gegen 9.00 Uhr morgens ging ein Grunzen, Schnaufen und ein Gestampfe durch das ganze Haus. Der Kristallleuchter im Wohnzimmer wackelte leicht. Ein sicheres Zeichen dafür, dass jetzt auch die Tochter des Hauses aufgestanden war.

Herr Frederik fand sich im ledernen Ohrensessel wieder. Er musste eingeschlafen sein. Krampfhaft versuchte er sich zu erinnern. Er hatte die Wohnung betreten und war in die Küche gegangen, um die Brötchen in den Frühstückskorb zu schütten. Ab da wusste er nichts mehr. Sollte er wegen so einer Kleinigkeit seinen Hausarzt Dr. Gutewohl kontaktieren? Hatte er ihm doch in die Hand versprochen, ihn bei jeder noch so kleinsten Veränderung zu unterrichten. Er versuchte sich aufzurichten, aber eine Zentnerlast drückte ihn nach unten.

"Du hast wieder geraucht, und getrunken hast du auch", hörte er seine Frau aus der Küche keifen. Seltsamerweise klang die Stimme viel gedämpfter als sonst, so als würde er bei der Kreissäge Schutzhörer tragen. Warum ist sie nur so geworden? Wie oft hatte er sich diese Frage gestellt. Mehr als fünfzig Jahre waren sie nun verheiratet, hatten Freud und Leid geteilt. Das schwere Drüsenfieber des Sohnes, drei Jahre hatten die Ärzte gegen seinen Tod gekämpft und gewonnen. Wie oft waren sie nachts angerufen worden und sofort ins Krankenhaus gefahren. Albert war das ein und alles der Mutter. Wenn er stirbt, verlasse ich dich! Warum sagt das eine Frau ihrem Mann gegen halb drei Uhr morgens auf einem kalten Krankenhausflur? Hatte er etwa diese heimtückische Krankheit erfunden? Damals schon hatte er den Eindruck gehabt, dass seine Frau mit dem Schicksal haderte - also auch mit Gott - und es stellvertretend an ihm ausließ. Warum stand er nicht einfach auf, ging in die Küche und haute mit seiner gewaltigen Schreinerpranke auf den Tisch. Er versuchte mit der rechten Hand eine Faust zu machen, aber sie gehorchte nicht mehr.

Frau Frederik hatte in einem gefütterten rosa Morgenmantel - von dem sie auch noch einen in hellblau und in lindgrün besaß - ihr Frühstück beendet. Der Platz gegenüber war leergeblieben. Dieser eigensinnige, sture Bock, dachte sie, aber wer nicht will, der hat schon. Sie stand auf und räumte den Frühstückstisch ab. Ein kurzer Blick auf die Küchenuhr verriet ihr, dass es Zeit war, mit der häuslichen Arbeit zu beginnen.

Nachdem alles wieder an seinem Platz war, entdeckte sie, wie jeden Morgen, die Brötchenkrümel auf der Wachstuchtischdecke. Es steckt eine Absicht dahinter. Es kann gar nicht anders sein, dachte Frau Frederik. Es bereitet ihm ein höllisches Vergnügen jeden Morgen frische Brötchen auf den Tisch zu stellen. Dabei wußte er doch genau, wie sehr sie Krümel hasste. Auf dem Küchentisch nahmen sie ihren Anfang, fielen auf den Linol boden, blieben an den Kleidern hängen und wurden durch das ganze Haus getragen. Mit Schrecken dachte sie an die bevorstehenden Wintermonate, wenn im ganzen Haus wieder eingeheizt werden würde. Dann konnte sie sich wieder doppelt und dreifach schlagen, um dem Staub wieder Herr zu werden.

Mit einem trotzigen Kopfschütteln wischte sie die Wachstuchtischdecke mit dem Zwiebelmuster ab, zog sich den weißen Haushaltskittel an und füllte den ersten Eimer mit heißem Wasser und einer Kappe Allzweckreiniger, der nach Limone roch. Frau Frederik schaute auf die offene Tür zum Wohnzimmer.

Albert war der Erstgeborene und hatte im Haus viele Spuren hinterlassen. Die Schwangerschaft seiner Frau hatte Herr Frederik in schöner Erinnerung. Es gab kaum eine Nacht, die er nicht in der Schreinerei verbracht hatte. Eine Wiege war das erste, was er für ihn mit eigener Hand zusammengezimmert hatte. Es folgte Holzspielzeug jeglicher Art, darunter ein Hampelmann, ein Schaukelpferd, eine Arche Noah mit mehr als dreihundert verschiedenen Tieren, ein Tretroller, ein Westernfort. Erst als Albert in die Schule gekommen war, ließen Frederiks nächtliche Aktivitäten in der Werkstatt nach, was zur Folge hatte, dass ein Jahr später Hildegard das Licht der Welt erblickte.

Die Erschütterung über ihm hatte nachgelassen. Seine Tochter hatte also mit den unsäglichen Gymnastikübungen aufgehört, die ohnehin außer Krach nichts brachten. Bei dem Übergewicht bedurfte es ganz anderer Aktivitäten. Aber Herr Frederik hatte längst aufgehört sich in die Angelegenheiten seiner Tochter einzumischen. Ein zweites Mal versuchte er jetzt, aus dem ledernen Ohrensessel hochzukommen, aber wie er sich auch anstrengte, es gelang ihm nicht.

*

Den ganzen Morgen hatte Rainer Demuth allein in seiner Kammer verbracht, ein paar Befehlszeilen in den Rechner eingegeben und auf ein erstes Resultat gewartet. Die Adressverwaltung und das individuelle Kundenprofil waren die Achillesferse des Versicherungskonzerns. Bei der Masse an Kunden würde es seiner Meinung nach ohnehin unmöglich sein, Dateien zu erstellen, die einen schnellen individuellen Zugriff gewährleisten könnten. Kinder wurden geboren. Ehen geschieden. Leute starben. Einige zogen in größere Wohnungen, andere verkleinerten sich oder waren unbekannt verzogen. Von oben hieß es immer nur: Fassen Sie mal alle Singles zusammen, mit dem und dem Jahreseinkommen, wohnhaft in der und der Stadt, in dem und dem Stadtteil, mit der und der Autoklasse ...!

Die Daten von heute, waren die Irrtümer von morgen, das war Demuths persönliche Meinung.

Ohne Anzuklopfen stand Patzek mit einem dampfenden Kaffeebecher in der Tür.

"Na, altes Haus, hab’ dir eine Stärkung mitgebracht!" grinste er und stellte ihm einen Becher auf den Tisch.

Demuth nahm unbedarft einen Schluck, obwohl er es hätte riechen müssen. Der Whisky brannte in seinem Rachen.

"Sind Sie verrückt geworden?" brach es aus Demuth heraus.

"Immer noch Du Arschloch. Aber Spaß beiseite, heute in der Mittagspause ist doch das große Meeting, da will man doch gestärkt hineingehen, oder?" witzelte Patzek und zündete sich eine Zigarette an, obwohl es verboten war.

Warum ziehe ich so einen Menschen an? Was habe ich an mir, dass ausgerechnet der mir meine Zeit stehlen muss? dachte Demuth.

"Was ich dich noch fragen wollte, kann ich vielleicht ein paar Wochen bei dir wohnen, mit meiner Freundin läuft es gerade nicht so gut."

"Wie bitte?" Demuth konnte so viel Dreistigkeit kaum fassen.

"Soll auch nicht dein Schaden sein!" versprach Patzek mit einem Vertreterlächeln.

Deine Anwesenheit ist Schaden genug, dachte Demuth und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

"Wenn es dir nichts ausmacht, bring ich dir gleich meine Koffer. In meiner Abteilung schauen schon alle wie blöde und bei dir stören sie ja nicht", sagte Patzek und verließ für einen kurzen Moment die Kammer, um gleich darauf mit zwei großen Schalenkoffern wieder hereinzukommen.

"Wo soll ich sie hinstellen?" fragte er und begriff aber sofort die Lächerlichkeit seiner Frage angesichts des winzigen Raumes. So zuckte er nur mit den Schultern und nahm den fast vollen Kaffeebecher mit zurück in sein Büro.

Zum Glück war Patzek gegangen. Doch sein billiges süßes Rasierwasser und der Whisky hatten den kleinen Raum so in Beschlag genommen, dass Demuth nichts anderes übrig blieb, als aufzustehen und die Tür zu öffnen, was aber nicht so einfach war, musste er doch zuvor die beiden sperrigen Koffer überwinden.

Demuth vertrat sich ein wenig die Beine, ging den Gang auf und ab und schaute durch dicke Glasscheiben auf die Schreibtische und die Rücken seiner Kollegen. Jedes Mal, wenn er an einem der Fenster vorbeigekommen war, hatte er das Gefühl, als würden die Mitarbeiter ihm hinterherschauen. Unauffällig drehte er seinen Arm nach hinten und tastete mit der Hand seinen Rücken ab. Es wäre nicht das erste Mal, dass Patzek ihm ein Schild mit einer anzüglichen Aufschrift auf die Jacke geklebt hätte. Das geilste Schwein vom Sparverein, prangte einmal während einer Präsentation in der Vorstandsetage auf dem Jackett seines besten Anzuges. Zum Glück hatte er sich kein einziges Mal während seiner Ausführungen umdrehen müssen. Erst beim Abbauen des Overheadprojektors hatte ihn die Sekretärin Frau Kluge darauf aufmerksam gemacht. Sie war die einzige Frau, die er kannte, der eine leichte Röte ins Gesicht stieg, wenn die Arbeitskollegen sie Fräulein nannten. Von Patzek wusste er, dass sie immer ihre Tage hatte, wenn eine Betriebsfeier oder der obligatorische Ausflug bevorstanden. Auch ging Gabriele Kluge nie allein in den unübersichtlichen Aktenkeller, sondern nahm immer einen Lehrling oder Praktikantin mit. Für Patzek war es daher unmöglich, bei ihr mal Einzulochen, wie er sich auszudrücken pflegte.

"Lade sie doch mal zum Essen ein oder geh mit ihr ins Kino", war Demuths Rat gewesen, um endlich seine Ruhe zu haben, obwohl er damals schon wusste, dass sie einem solchen Angebot nie zustimmen würde.

"Da kann ich ja direkt ins Puff gehen", war Patzeks missmutige Antwort gewesen.

Nachdem Rainer Demuth zweimal den langen Flur auf und ab gegangen war, kehrte er in sein Büro zurück. Eine verschlüsselte Nachricht lag auf dem Desktop seines Computers. Gabriele Kluge hatte ihm geschrieben und ihm mitgeteilt, wo sie ihre Mittagspause verbringen würde.

*

Die Lauge war schwarz, als Frau Frederik den Feudel auswrang. Was für ein Schmutz, und der nur vom Küchenboden. Was sollte bloß im Winter werden? Für einen kurzen Moment überlegte sie, ob sie nicht die Küchenschränke von innen wischen sollte. Dann öffnete sie beherzt die Türen des Hängeschrankes. Der Monat war zwar noch nicht vorüber, aber heute war ihr einfach danach. Obwohl zierlich in Person wuchtete sie als erstes die hohen Stapel an unterschiedlichen Tellern aus dem untersten Fach und verteilte die Porzellanpyramiden über den ganzen Küchentisch. Dann nahm sie die Tassen, Brettchen und kleinen Schüsseln in Angriff.

In der Wohnung darüber schaltete die Tochter im Bad den Fernseher ein, bevor sie ihren opulenten Körper in die Duschkabine quetschte. Einen Spalt der Schiebetür ließ Hildegard auf, um ja nicht die Folge einer ihrer Lieblingsserien zu verpassen. Zwar lief diese Krankenhausserie schon in der dritten Wiederholung. Aber sie fand es immer wieder schön, mit Patienten, Ärzten und Krankenschwestern mitleiden und sich freuen zu können. Ihre milchige Haut verschwand fast zur Gänze unter dem Seifenschaum, den sie mehr als großzügig über ihren massigen Körper verteilt hatte. Zumindest an den Stellen, die sie mit ihren kurzen Armen erreichen konnte. Zudem plagte sie eine krankhafte Kurzatmigkeit, die es ihr verbot, sich zu bücken. Ihre gewaltigen Brüste, die schwer auf dem Bauch lagen, standen für einen Blick nach unten auf die Füße ohnehin im Weg. So konnte sie sich im Intimbereich nur blind waschen. Sie war von jeher ein kräftiges Kind gewesen. Schon als kleines Mädchen hatte der Vater sie mit in die Schreinerei genommen, anstatt sie mit Gleichaltrigen im Kindergarten spielen zu lassen. Das ganze Gelände mit seinen Werkstätten, Hallen und Kellern war für sie ein großer Abenteuerspielplatz gewesen. Jeden Tag gab es etwas Neues zu entdecken. Nur von den schweren Maschinen und dem Raum, in den die Holzspäne über ein ausgeklügeltes Rohrsystem geblasen wurden, musste sie sich fernhalten. Ansonsten hatte der Vater ihr freie Hand gelassen. So hatte sie, - schon bevor sie in die Schule gekommen war -, so geschickt mit Hobel und Beitel umgehen können wie manch ein Lehrling im Betrieb nicht. Auch die Säcke mit dem Abfallholz hatte sie stemmen können, wie ein Geselle. In der Schule war sie mit Abstand das kräftigste Kind gewesen, was sie am zweiten Tag auch gleich unter Beweis gestellt hatte. Ihr Sitznachbar, ein Junge mit Stoppelhaar-Frisur, hatte lautstark verkündet, dass er neben so einer dicken Kuh nicht sitzen wolle, worauf der Junge von ihr so eine Abreibung bekommen hatte, dass er im Krankenhaus zweimal genäht werden musste. In den Turnstunden war sie als erste in die Mannschaft gewählt worden, wenn es darum gegangen war, mit einem Medizinball die gegnerische Gruppe durch einen Körpertreffer zu dezimieren. Wenn sie den schweren, mit Holzwolle gefüllten Lederball geworfen hatte, war keiner lange auf seinen Beinen geblieben. Kegeln, hatte sie das genannt und breit gelächelt. Ihr lückenhaftes Gebiss war der Beweis dafür gewesen, dass sie sich gerade von den letzten Milchzähnen getrennt hatte. Doch zur Verwunderung aller Familienangehörigen hatten die anderen Zähne einfach nicht nachrücken wollen.

"Bei ihr geht es eben anders herum", hatte der Vater in Anbetracht ihrer Körpergröße gesagt und kein weiteres Aufsehen darum gemacht. Die Mutter hingegen hatte mit ihr dann doch besorgt einen Zahnarzt aufgesucht, nachdem sie ihren elften Geburtstag gefeiert hatte. Der Doktor hatte zunächst nur die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und sofort ein paar Fotos gemacht, die heute noch in vielen zahnmedizinischen Lehrbüchern abgebildet sind. Ihr tägliches Frühstück, Brot mit Butter und obenauf eine dicke Schicht Kristallzucker, war ihr zum Verhängnis geworden.

Die zweiten Zähne waren schon im Ansatz ihres Entstehens kariös und nicht mehr zu retten gewesen. Der Vater hatte im Gegensatz zur Mutter nur gelacht, den schweren Wonneproppen auf seinen Schoß genommen und gescherzt, dass sie jetzt eine medizinische Berühmtheit wäre. Dass ihr schmerzhafte Operationen bis ins Erwachsenenalter bevorstanden, hatte er ihr vorenthalten. Immer optimistisch nach vorne blickend, das war seine Natur, und sie bildete sich bis heute ein, gerade diese Charaktereigenschaft von ihm geerbt zu haben. Überhaupt fiel es ihr schwer, den Tränen freien Lauf zu lassen. Wenn sie nach einer Rauferei mit einem Jungen voller Blessuren aus der Schule heimgekommen war, hatte sie ein unbekanntes prickelndes Gefühl dabei empfunden, an ihren offenen Wunden herumzuspielen. Später in der Pubertät, als kein Junge sich mehr in ihre Nähe getraut hatte, hatte sie die Rasierklingen des Vaters für sich entdeckt. Aber das war bis heute ihr großes Geheimnis.


Aus: GULLY ODER DIE PFÜTZE DES ZUFALLS (Erstes Kapitel)

1.

Ein endlos scheinendes Meer, an einem beliebigen Punkt, schwarzgrau das Wasser, Wellen steigen, übertreffen in ihrer Größe Hochhäuser. Die Natur hat ihr Spielzeug gefunden. Die Natur spielt mit sich selber. An den Rändern der Schaumkronen scheint die Farbe des Wassers ins türkis zu gehen. Ein schöner Kontrast zu den weißen Schaumkrönchen obenauf. Zum Land hin bekommt das Wasser einen blasseren Ton. Blau setzt sich durch, bis das Wasser leise den Sandstrand hoch läuft.
Ein Ohnmächtiger im Outfit eines Schiffbrüchigen könnte jetzt im feinen Sand liegen. Die nackten Beine, die aus der ausgefransten Hose lugen, werden vom Wasser umspült. Ein Stück Treibholz neben dem Kopf macht sich immer gut.
Bevor die Flut kommt, wird der ohnmächtige Schiff-brüchige von einem armen Fischermädchen gefunden. Naturgemäß hat er sein Gedächtnis verloren und wird von dem Mädchen gesund gepflegt. Am Schluss aber weiß er wieder wer er ist und heiratet die arme Fischertochter.
Solche Geschichten enden immer da, wo die Probleme erst beginnen.
In der Realität ist alles anders. Ein Besoffener verlässt die Kneipe, stürzt unglücklich, fällt in eine Pfütze mit Regenbogenrand, denkt vielleicht noch, schmeckt aber komisch, und ertrinkt.
Die Kinder weinen. Eine Frau atmet auf. Ein halbes Zimmer mehr und der Gestank wäre endlich aus der Bude.
Wenn man trinkt, sollte man einen großen Bogen um Pfützen machen. Vor richtigen Säuferkneipen gibt es keine Pfützen. Da kann es noch so geregnet haben. In den Straßen können sich die ersten Grachten gebildet haben. Die Rampe vor dem Eingang ist knochentrocken. Nicht umsonst heißt die schmierige Hütte: Schwemme. Glatteis im Winter, vor der Schwemme nicht, da ist ganzjährig alles trocken.
"Scheiße", so beginne ich den Dialog mit der Welt, denn ich bin in eine Pfütze getreten. Meine hellen Wildlederschuhe saugen alles auf. Die Küchenrolle, der Tampon, sie haben keine Chance. Meine hellen Wildlederschuhe sind Siegertypen. Entweder war Moses Alkoholiker oder er trug helle Wildlederschuhe. Vielleicht braucht man auch beides, um ein Meer zu teilen.
Ich stehe jedenfalls mit voll gesogenen Schuhen vor einer Tür, in deren Kopfhöhe ein kleines Türchen angebracht ist.
Wer mit vierzig Jahren noch keine Mark auf die Seite gebracht hat, vom Euro oder Dollar ganz zu schweigen, ist ein Idiot oder Schriftsteller.

Mit dreißig Jahren dachte ich schon, ich wäre beides.
Seit drei Jahren lebte ich in diesem Loch und hatte das Gefühl von der Außenwelt nicht mehr wahrgenommen zu werden.
Mit neunzehn Jahren hätte ich alles darum gegeben, hier wohnen zu dürfen. Mit neunzehn Jahren bezeichnete man mich als hoffnungsvolles Talent, selbst das Prädikat Jahrhunderttalent wurde mir bescheinigt.
Ab dem dreißigsten Lebensjahr kam es mir vor, als würde der Abreißkalender auf meinem Klo von selbst dünner werden. Und zwar nicht Tag für Tag, sondern Sekunde um Sekunde.
Das morgendliche Geschäft, nach Genuss der ersten Zigarette, noch nicht ganz erledigt, ich wollte mich gerade erheben, da sah ich, dass schon wieder ein Monat vergangen war.
Wie ein Preisausschreibenjunkie brachte ich damals meine dicken Manuskripte zur Post, unterstützte so ein Staatsunternehmen und sorgte später durch meine ungeheuren Portokosten für einen gesunden Start in eine Aktiengesellschaft. Hätte ich damals statt Briefmarken in Aktien investiert, wer weiß, wo ich heute mein geschwollenes Haupt betten würde.
Ich war so weit heruntergekommen mit dreiunddreißig Jahren, dass ich keinerlei Drogen mehr bedurfte, um meine Birne weich zu bekommen. Ein Monat laues schwammiges Weißbrot aus den Containern der einschlägigen Groß-handelsketten und man kommt auf einen ganz besonderen Trip. Vielleicht lag es auch an den Schimmelpilzen, aber diese Erforschung in Bezug auf das Weichmachen von Hirnen überlasse ich gern arbeitslosen Naturwissen-schaftlern, die ja zuhauf ratlos durch die Gegend laufen sollen.
Mit vierunddreißig Jahren verkauft längst ein arbeitsloser, ein aus der Universität nie hinausgekommener, akademischer Verlierer das Geoabo an der Tür und verdrängt so den Exknasti mit seiner Praline.
Mit dreiunddreißig Jahren war die Prosa nur Hunger, nur Durst, war alle Enthaltung so viel geworden, dass ich der felsenfesten Überzeugung war, dass im Grunde die Verlage ausschließlich von den unaufgeforderten eingesandten Manuskriptbergen lebten. Ich bildete mir ein, dass Tausende von Menschen jeden Tag zur Post gingen, um ihre literarischen Ergüsse zu verschicken. Bestes Papier hervorragend geeignet zum Recyceln. In jedem, der unzähligen Copyshops, in denen ich seinerzeit auftauchte, mehr als hundert Seiten gleich fünf Mal kopierte, sah ich ein verkanntes Schriftstellergenie. Unterernährt wie ich, mit weicher Birne, hervorgerufen zum Teil auch durch die Tonerabsonderung der Kopierer und der Klebstoffzusammensetzung der Briefmarken.
Bei jedem Postüberfall, bei dem ausschließlich Briefmarken und große Umschläge geklaut worden waren, schreckte ich auf. Wieder hatte einer dieser unzähligen anonymen Schriftsteller, die sich wie Bakterien über das ganze Land vermehrten, keinen anderen Ausweg mehr gewusst.
Es war doch nur eine Frage der Zeit, dass ich soweit war.
Unterernährt wie ich mit dreiunddreißig Jahren war, fand ich selbst in der Gastronomie oder in Krankenhäusern als dritter Spüler keine Anstellung mehr. Unvermittelbar war das Ergebnis, was mein schwammiges, in Fieberschweiß schwimmendes Gehirn dazu veranlasste, mein Loch nicht mehr zu verlassen. Einzige Ausnahme, die täglichen Streifzüge zu den Containern der einschlägigen Großhandelsketten.
Schnell stellte es sich für mich heraus, dass es nächtens überhaupt keinen Sinn machte, nach etwas Essbarem zu suchen. Die Konkurrenz war einfach zu groß. Neben Katzen, streunenden Hunden, dem Wachpersonal, das immer brutaler wurde, kamen auch noch Typen hinzu, denen es ähnlich ging wie mir, aber im Gegenteil zu mir, vor Gewalt nicht zurückschreckten.

"Musst du ausgerechnet jetzt schreiben?", fragt meine Frau Heidi, in ihrer seltsamen so eigenen Sprache, die ich so liebe.
Eigentlich gibt es nichts, was ich an ihr nicht liebe. Ja, ich bin ein glücklicher Mensch. Ein zu beneidender ekelhaft glücklicher Mensch.
Aber hier an diesem Ort werde ich von niemand beneidet. Im Gegenteil, man lächelt mir anerkennend zu und schaut unverblümt auf den geilsten Busen der Welt. Heidis Brüste kennen keine BHs. Sie sind groß und prall. Selbst die dünnste Membran hätte keine Chance von ihnen festgehalten zu werden. Vor zehn Jahren gehörte Heidi noch zur Olympiaauswahl der Synchronschwimmerinnen. Ihre Figur, die braune Haut mit dem blonden Flaum rauben mir immer noch den Atem.
Mein Blick fällt nach rechts und ich schaue wie hypnotisiert auf ihre Brustwarzen, die sich mehr als deutlich unter ihrem hautengen Glitzerkleid eines italo-amerikanischen Designers hervorheben.
"Die Leute schauen schon", zischt sie, "gerade heute musst du doch nicht den Schriftsteller heraushängen lassen."
Wenn nicht heute, wann dann, fährt es mir durch den Kopf. Heute ist doch mein Tag. Gleich werden sie meinen Namen aufrufen und ein Bild von mir zeigen. Der Kamerakran wird sich mir auf bedrohliche Weise nähern, damit mich die ganze Welt sehen kann, sozusagen als Beweisstück, dass es mich wirklich gibt.
"Niemand schreibt mehr mit der Hand", flüstert Santor, der links von mir sitzt.
Santor ist Ungar, wie er behauptet, aber ich glaube ihm kein Wort. Santor ist eine Mischung aus allem. Eine Kreuzung zwischen Straßenköter und Strandhund. In Santor stecken die Gene der ganzen Welt. Vielleicht ist es ja doch möglich, dass mehrere Männer eine Frau befruchten können. Mit Santor könnte ich das auf jedem Genetikerkongress beweisen. Santor ist das Ergebnis eines übergroßen Spermacocktails, den sich seine Mutter reingepfiffen haben muss.
Jeder Mensch hat seine Legende. Also bleibt es dabei. Santor ist Ungar und mein Manager. Alle juristischen und finanziellen Dinge erledigt er. So hat sich seit meiner Geburt im Grunde nichts verändert. Ich besitze nach wie vor keine müde Mark, geschweige denn Euros oder Dollars.

Mit dreiunddreißig Jahren war ich von Schimmel und Mikroben umgeben. in meinem Badezimmer hatten sich dieselben Kulturen angesiedelt wie fünfzig Meter tiefer in der Kanalisation. Mein Bett, das ohnehin immer feucht war, roch wie ein Partykeller aus den siebziger Jahren, der mehrmals von Hochwasser oder zumindest von geplatzten, falsch angestochenen Bierfässern heimgesucht worden war.
Außer Büchern, Manuskripten, Ordner mit Ablehnungsschreiben und defekten Schreibmaschinen besaß ich nichts. Keine Frage, meine Wohnung stank.
Selbst die bekiffteste oder besoffenste Thekenschlampe hätte sich nicht mehr in meine vier Wände verirrt.
Sechsundneunzig Parteien hatte mein Wohnsilo und in einem der heruntergekommenen Wohnklos wurde immer gevögelt. Das Bad mit der Kölner Lüftung, - anfangs mein Zufluchtsort vor den dünnen Wänden -, brachte nichts. Alles musste ich schonungslos mit anhören. Unzählige Abende mit der Bolero-Musik von Ravel in den unter-schiedlichsten Versionen. Aber das Gestöhne fing meist erst an, wenn der Tonarm sich diskret auf die Gabel zurückgezogen hatte. Das Aufreißen einer Kondompackung, selbst das Überziehen, meine Ohren waren gezwungen live dabei zu sein.
Ich war der felsenfesten Überzeugung, dass selbst meine Einzeller im Bad sich in diesen Augenblicken wünschten, Säugetiere zu sein.
Es gab Notstände, wo ich kurz davor war, in die Steckdose zu wichsen, um meinem Martyrium ein Ende zu setzen.

Gerade jetzt, wo es spannend wird, reißt mir Santor meinen Block aus den Händen. Heidi öffnet mit zarter Gewalt meine rechte Hand und fischt meinen Füller heraus, den sie in ihrem zauberhaften Dekolleté verschwinden lässt.
"Wehe du lächelst jetzt nicht", zischt Santor.
Für alle unsichtbar hat sich Heidis Hand unter meiner Smokingjacke ihren Weg zu meinen Rippen gebahnt.
Der Kamerakran nähert sich mir auf bedrohliche Weise. Heidi massiert meine Rippenknochen. Santor macht das Victoryzeichen und zeigt mit der anderen Hand auf mich.
Ich lächle. Ja, ich lächle wie blöde und kann es nicht fassen.
"The winner is...."
Zum ersten Mal höre ich von einer ausgebildeten Stanislawski Schülerin meinen Namen auf amerikanisch. Das klingt so seltsam, dass ich mich überhaupt nicht angesprochen fühle, also auch gar keine Anstalten mache, aufzustehen, nach vorne zu gehen und den Preis entgegen- zunehmen.
"Shit", zischt Santor.
"Liebling, du musst aufstehen und nach vorne."
Die Welt starrt mich an, dass ich das dringende Bedürfnis habe mit einem Kosmonauten den Platz in der MIR oder anderen Schrotteilen, die im All herumfliegen, zu tauschen.
Wie ferngesteuert erhebe ich mich und schaue nur in glückliche Gesichter. Kollegen reichen mir die Hand und wollen mir auf meinen verschwitzten Smokingrücken klopfen, dem ich aber geschickt ausweiche.
Federnden Schrittes geht es die Stufen zwischen den Sitzreihen herunter. Um mich herum nur glückliche Gesichter.
Die Bühne erklimme ich wie ein Zehnkämpfer nach dem Gewinn der Goldmedaille.
Überall grelles Licht, so hell, dass ich mich nicht wundern würde, wenn mir Petrus plötzlich entgegentritt, um mir den großen Schlüssel zu überreichen.
Vielleicht in Erwartung dieses großen Mannes mit Bart habe ich zu spät die schimmernde Pfütze vor dem Rednerpult gesehen. Ich trete voll hinein und lege mich dann der Länge nach hin, nachdem mir die Schauspielerin, die den versiegelten Umschlag geöffnet hat, mir unverhofft auf die Schulter klopft. Beißender Geruch, denke ich. Meine Nase taucht zur Gänze in die schimmernde Pfütze ein und schon verliere ich das Bewusstsein.
Als ich wieder zu mir komme, trage ich Weiß, halte in meinen verkabelten Händen ein vergoldetes Männchen ohne Geschlechtsteile. Unentwegt piept es.
"Mach doch einer dieses gottverdammte Handy aus", stöhne ich.
Meine Lippen schmecken säuerlich bitter. In der Nase immer noch diesen beißenden Gestank.
"Was ist passiert?", frage ich ohne meine Augen zu öffnen.
"Die Zeitungen sind voll von dir. Es gibt keine Fernsehstation in der Welt, die nicht über dich berichtet hat", höre ich Heidi in ihrer seltsamen so eigenen Sprache sagen.
"Du bist in die Geschichte eingegangen. Du bist der erste, der die Trophäe bewusstlos in Empfang genommen hat!"
"Bullshit", flucht im Hintergrund Santor.
"Du bist ein Held!"
"Leider, kein Studio wird uns mehr anrufen!"
"Der deutsche Botschafter hat Blumen geschickt und wünscht gute Besserung. Auch war der Anwalt der Schauspielerin da. Bevor wir erwägen zu klagen, bietet er uns einen Vergleich über zwanzig Millionen an."
Mir ist das alles zu viel. Ich höre auf das gleichmäßige Piepen. Wenn das kein Handy ist, kann es sich nur um meine Eingeweide handeln, die sich elektronisch zu Wort melden.
So lange es piept, lebe ich noch. Ein beruhigendes Gefühl.
"Du bist in einer Pfütze ausgerutscht", flüstert mir Heidi zu und drückt mir ihre heiße Wange ans Gesicht.
"Die Preisträgerin, die für ihr Lebenswerk ausgezeichnet worden ist, leidet an Blasenschwäche, so ihr Anwalt."
Geahnt habe ich es schon längst, von Anfang an, als mir der beißende Geruch in die Nase gestiegen ist und ich die kleinen Fettaugen gesehen habe, die obenauf schwammen. Jetzt, durch die Gewissheit, weiß mein Körper sich nicht anders zu wehren, als sich vom Mageninhalt zu befreien.
Ich breche, nein, ich kotze, was das Zeug hält. Ich würge, ich verkrampfe, ich weine, würge, würge, um auch den letzten Tropfen dieser alternden fast scheintoten Schaupielerfregatte aus meinem Körper zu bekommen.
Nie Kokain genommen und doch sind jetzt meine Nasenwände verätzt, für immer verloren, denke ich und falle in einen tiefen Schlaf.
Ich kenne meine Träume. Realistisch von Anfang bis Ende. Anstatt in ein Koma zu fallen, werde ich so wieder heimgesucht.
Da liege ich also auf dem Boden und schaue auf einen halbgeschlossenen Frauenschuh.
Ein Geruch von gefärbten Italoleder, einer süßlichen Salbe und schwitzenden Füßen, hervorgerufen durch einen hartnäckigen Pilz, bahnt sich seinen Weg in meine Nebenhöhlen.
Was gäbe ich darum, noch Polypen zu haben, in der Hoffnung, die Dinger könnten den Geruch vielleicht stoppen, zumindest aber filtern.
Der Anblick des blauroten Aderdeltas gemischt mit weißem Schorf nicht ertragend, schaue ich nach oben ins ungewisse Dunkle. Ich orientiere mich an den Krampfadern, die so dick sind wie Aufzugsstahlseile.
Ein beißender Geruch, eine Mischung aus Verwesung, Alkohol, verbranntem Plastik und hochgiftigen Medikamenten dringt in meine Nase.
Viel zu spät bemerke ich das Rinnsal. Und als ich es bemerke, ist daraus längst ein Wasserfall geworden. Unverblümt gehen in meine Richtung Gase ab.
Aus innerer Not heraus weiß ich mir nicht anders zu helfen und zünde das Feuerzeug, um Licht in die Dunkelheit zu bringen.
Über mir eine gewaltige Explosion.
Ich gehe in Deckung, werde aber von riesigen Fleischstücken getroffen. Eine harte Leber streift zum Glück nur meinen Kopf. Eine Perücke landet neben mir. Gebogene starre Augenwimpern bohren sich wie Akupunkturnadeln in meinen Rücken. Da folgt ein Gebiss, das an meinem Hintern abprallt und zur Seite kullert. Das Auge, das genau vor meinem Gesicht zum Liegen gekommen ist, starrt mich an. Ich drehe mich auf den Rücken und schon kommen sie geflogen, diese dicken Dinger, die ich wie ein Baseballspieler fange. Implantate der dritten Generation.
Ein langer warmer Kuss holt mich rechtzeitig zurück ins Leben.
Mit beiden Händen halte ich Heidis wunderbaren Synchronschwimmerbusen. Ich spüre, wie ihr Herz schlägt. Das ist die Wirklichkeit.
Verschämt lasse ich los.
"Hast du wieder einen Alpentraum gehabt?", fragt mich Heidi in ihrer seltsamen so eigenen Sprache.
"Alptraum, mein Schatz. Es heißt Alptraum."
Erst jetzt registriere ich, dass wir uns in unserem Strandhaus in der Nähe von Santa Barbara befinden.
Mein Krankenbett hat man direkt an das große Panoramafenster gerollt, von wo aus ich einen wunderbaren Blick auf das Meer habe

Mit dreiunddreißig Jahren war ich anderes gewohnt. Da flogen nach einem verpatzten Fußballspiel der Nationalmannschaft Fernseher aus dem Fenster oder vor Beginn der Sommerferien kleine Hunde oder Katzen aus dem zwölften Stock des gegenüberliegenden Wohnsilos. Ein paar vertrocknete, ausgehungerte Rentner versuchten denselben Weg, wurden aber meist im zehnten Stock auf die Balkone geweht.
So einfach ist das nicht, aus dem Leben zu scheiden.
Die Löffel kann man ins Pfandhaus tragen, solange sie nicht aus Blech oder Plastik sind. Aber sich wirklich den letzten Rest aus einem schwammigen Hirn zu pusten, dazu gehört schon mehr.
Der Hausmeister, der mir bei meinem Einzug die gebrauchte Klobrille montiert hatte, erzählte irgendwann, nachdem fünften oder zehnten Bierchen, als die Flasche Bauernstolz auch nichts mehr hergab, dass einer aus dem vierzehnten Stock, den Strick um den Hals vom Balkon gesprungen ist und eine Etage tiefer, seine letzten Zuckungen hatte. Es aber immerhin noch geschafft hatte mit seinem unkontrollierten Urinstrahl, den Holzkohlegrill der Familie Grabowsky auszulöschen.
Für mich keine Frage, wessen Nachfolger ich in Bezug auf die Klobrille war.
Eine Woche nach meinem Einzug erlebte ich die erste Zwangsräumung. Ich lag im Bett, schlief oder träumte irgendetwas Aufmunterndes, da knackte es laut von allen Seiten, so als ob Knochen gebrochen würden. Es war aber nur Holz, was ich beruhigend feststellen konnte, als ich schlaftaumelnd zu meinem Türgucki schlich und in Fischaugenperspektive beobachten konnte, wie Typen in braunen Overalls in der gegenüberliegenden Wohnung, die komplette Einrichtung aus dem Fenster warfen. Nur die Stereoanlage, der Fernseher und das immense Leergut hielten sie zurück.
Ich nahm eine meiner beiden Matratzen und lehnte sie gegen die Tür, um den Lärm zu mildern. Dann schlurfte ich zurück ins warme Bett.
Eine Woche nach meinem Einzug wollte ich von der Realität nichts wissen.
Natürlich las ich damals die Zeitungen, bekam auch mit, wie die Arbeitslosenzahlen immer mehr in die Höhe schossen, obwohl gleichzeitig immer mehr Familienväter sich und ihre Frauen und Kinder gewaltsam auslöschten.
Noch aber war mein Bett warm, von Feuchtigkeit keine Spur und meine Schreibmaschine funktionierte.

"Sie müssen sich in der Akademie vertan haben. Du bist der erste, der auf Anhieb gewonnen hat. So viele Feinde haben wir auch nicht, dass sie uns so etwas antun würden", klagt Santor.
"Ich will nur meine Ruhe habe", stöhne ich wehleidig.
"Die nächsten Jahre werden wir von der Substanz leben müssen. Darauf gilt es sich einzustellen."
"Du vergisst die zwanzig Millionen Dollar Schmerzensgeld."
"Vielleicht ist mit einem guten Anwaltsbüro das Doppelte herauszuholen?"
Heidi, die ohnehin meine Gedanken lesen kann, zieht aus ihrem zauberhaften Dekolleté meinen Stift, worauf Santor auch nicht anders kann, als mir den Block zurückzugeben.
Durch die Fernbedienung an der Seite verstelle ich das Kopfende meines Krankenbettes bis ich aufrecht sitze.
Vor mir die Brandung des Meeres.
Ein endlos scheinendes Meer, aber das hatten wir ja schon.


Johannes Wierz, 1962 in Bonn geboren, Kärnten, Köln, Tel Aviv, München, Wien, Hamburg, New York, Amsterdam und Berlin sind neben seiner Heimatstadt wichtige Stationen seines Lebens. Ausbildung als Medienpädagoge in Köln. Gründung eines Off-Theaters (1984-1993) Uraufführung von Georg Danzers Theaterstücken, Revue zu Vieren von Klaus Mann, Einladung zu den Wiener Festwochen mit dem eigenen Stück "Café Landtmann". In München und Wien hat er das Drehbuchschreiben gelernt und zusätzlich in Hamburg, Köln und Berlin für Filmproduktionen gearbeitet. Mit den Jahren hat er 35 Bücher veröffentlicht. Darunter Romane, Theaterstücke und Lyrik. Zur Zeit arbeitet er in Bonn und Berlin.

2021: VG Wort-Neustart Stipendium
2021: Soforthilfe durch den Verein Lese-Kultur Godesberg e.V.
2021: Stipendium des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft NRW
2020: Stipendium des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft NRW
2013: 3.Platz des Glödnitzer Literaturwettbewerbs im Rahmen Österreich liest
2012: Literaturstipendium des NRW Kulturministeriums
2000: Literaturstipendium des NRW Kulturministeriums
1991: Einladung zu den Wiener Festwochen
1985: Einladung zum Bochumer Theatertreffen

Goetz. Amazon-Taschenbuch / kindle edition (E-Book): 2020.
Adele. Amazon-Taschenbuch / kindle edition (E-Book): 2020.
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Hamburger Stücke. Amazon-Taschenbuch / kindle edition (E-Book): 2015.
Piefke. Amazon-Taschenbuch / kindle edition (E-Book): 2015.
Sternsinger. Amazon-Taschenbuch / kindle edition (E-Book): 2015.
Christine - Rückkehr nach Wien. Amazon-Taschenbuch / kindle edition (E-Book): 2014.
Café Landtmann. Amazon-Taschenbuch / kindle edition (E-Book): 2014.
Der Tierpräparator. Amazon-Taschenbuch / kindle edition (E-Book): 2014.
Ohlsdorf-Totentanz. Amazon-Taschenbuch / kindle edition (E-Book): 2014.
Notausgang. Amazon-Taschenbuch / kindle edition (E-Book): 2014.
Stammheim. Amazon-Taschenbuch / kindle edition (E-Book): 2014.
Herbstbesuche. Amazon-Taschenbuch / kindle edition (E-Book): 2014.
Grapefruit moon. Amazon-Taschenbuch / kindle edition (E-Book): 2014.
Die Schläfer. Amazon-Taschenbuch / kindle edition (E-Book): 2014.
Jubiläum. Amazon-Taschenbuch / kindle edition (E-Book): 2014.

Riesen V°1. CD, 14 Lieder mit Booklet. edition lyrik-bilder: Bonn 2021.

In: Ich würde es wieder tun. Anthologie. Memoirenverlag: Glödnitz 2013.

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Aktualisiert 13.12.2021