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Jochen Langer


Jochen Langer © privat
Jochen Langer
1953
Hameln
Köln
Köln
Rheinschiene, Rheinland komplett
Prosa, Funk

Arbeitsproben (1)

 

DIE GROßE WOCHE

Wie jedes Jahr trafen sich zur Großen Woche die schönsten Huren Europas, die reichen südamerikanischen Drogenbosse, Banker, Industrielle und Politiker, um Geschäfte zu machen. Rodrigo, schlank, mittelgroß, mit schwarzem, im Nacken zusammengebundenem Haar, war mit seiner Privatmaschine über London, Prag und Zürich nach Baden-Baden gekommen, hatte Antigua und Helen an der Côte aufspüren lassen, wo sie den Sommer über arbeiteten, und in die Stadt bestellt.

Während sich in den Suiten der Luxushotels die Zimmermädchen am Morgen normalerweise durch Schwaden des süßlich-brennenden Haschischgeruchs zu den Fenstern kämpfen mussten, um die Räume zu lüften, und in der Rennwoche die verschärfte Anweisung galt, den feinen Kokainstaub spurenlos von den Glastischen zu wischen, übten sich gerade die Südamerikaner in Puritanismus, was Rauschgifte anging, und achteten peinlich darauf, kein Zehntelgramm bei sich zu tragen. Von ihren Leibwächtern wurde erwartet, dass sie die handlichen Schnellfeuerpistolen, die sie mit sich führten, für die Dauer des Aufenthaltes in den Safes der Hotels deponierten, wo sich zeitweise die Waffen so häuften, dass Verwechslungen vorkamen. Mit den ungeduldigen Herren ergaben sich schwierige Situationen, und eine Art Garderobenmarke musste eingeführt werden.

Rodrigo kümmerte sich nicht um solche Dinge. Er war gekommen, um Geschäfte zu machen, bei denen er sein Geld in Europa anlegen konnte. Drogen und Waffen durften nicht in seine Nähe.
Im Grunde, pflegte er im hart klingenden kolumbianischen Spanisch zu sagen, bin ich nicht hier!
Und obwohl er über zehn Jahre lang zweimal jährlich in die Stadt kam, das beste Hotel bewohnte und am gesellschaftlichen Leben teilnahm, um seine Geschäfte abwickeln zu können, gab es nach all dieser Zeit niemanden, der bezeugen wollte, ihn gekannt zu haben.

Als er Therese kennen lernte und die Distanz zu seinem Beruf größer wurde, begegnete ihm in den Thermen einmal ein Mann, der ihm als Etagenkellner bekannt war. Er nickte ihm zu, aber der Mann erwiderte den Gruß nicht, obwohl er Rodrigo gesehen haben musste, und Rodrigo dachte, voller Bewunderung für die Perfektion der in der Stadt gebotenen Dienstleistungen: Man weiß, dass ich nicht hier bin, und jeder hält sich daran!

Stets begleiteten ihn einige Männer seiner Leibwache. Und doch vergewisserte er sich dadurch nur seiner Position. Denn sie garantierten ihm etwas sehr Seltenes: äußere Distanz. Seinen Schutz übernahm ein privates deutsches Wachunternehmen, spezialisiert auf Fälle dieser Art. Deren Männer durften Waffen tragen und arbeiteten mit der örtlichen Polizei zusammen.

Rodrigo war jetzt 42 und hatte das Unternehmen von seinem älteren Bruder übernommen, der in den USA für hundertzwanzig Jahre hinter Gittern saß. Ihr Vater hatte das Geschäft aufgebaut, aber erst sein Bruder hatte es groß gemacht gegen die Konkurrenz aus dem eigenen Land und die international so erfolgreichen Chinesen. Er hatte die katalanische Küste und den spanischen Markt als Sprungbrett für Europa erschlossen, und Rodrigo sah sich nun in einer Generationenabfolge, wo die Gelder wie von alleine flossen und das Unternehmen zu verzweigt war, um einfach zerschlagen zu werden: zu viele Arbeitsplätze hingen davon ab, der kolumbianische Staat würde helfend eingreifen. Die eigentliche Aufgabe für Rodrigo bestand darin, die Gewinne sicher, das hieß: außerhalb des Drogenbereichs, anzulegen.

Aus: Die Liebe am Nachmittag.


Geboren am 14. November 1953 in Hameln. Er wuchs in Bad Honnef am Rhein auf, besuchte die Handelsschule der Schulbrüder und das Wirtschaftsgymnasium. Nach einem zivilen Ersatzdienst studierte er von 1975 bis 1980 Germanistik, Theaterwissenschaft und Geschichte in Köln. Jochen Langer hat zwei Töchter und lebt als freier Autor mit seiner Familie in Köln.

2000: Amsterdam-Aufenthalt im Rahmen des deutsch-niederländischen Kulturaustauschs
1999: Aufenthalt im Brecht-Haus auf Fünen
1999: Förderstipendium der Stiftung Kunst und Kultur des Landes NRW
1997: Aufnahme in das Förderprogramm des NRW-Kultursekretariats
1997: Stipendium des Künstlerhauses NRW in Schöppingen
1994: Irland-Reisestipendium der Heinrich Böll-Stiftung
1990/1991: Baldreit-Stipendium (als Stadtschreiber) der Stadt Baden-Baden
1988: Einladung zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt
1986: Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium der Stadt Köln

Die Liebe am Nachmittag. Liebesgeschichten. Kiepenheuer & Witsch: Köln 1996.
Patrizia sagt. Roman. Ammann: Zürich 1989.

Die Piratin. Kurzhörspiel. SDR: 1997.
Michael nimmt Rauschgift. Kurzhörspiel. SDR: 1992.
Was es immer geben wird. Hörstück. SDR: 1992.
Melanie. Kurzhörspiel. SDR: 1991.

Die Komödie: 'Vereinigungsnacht' (2001, unveröffentlicht).

www.jochenlanger.de (ausgezeichnet mit dem Design Award)

Vereinigungsnacht. Eine erotische Geschichte. In: Kein Herz, das mehr geliebt. Geschichten von Verführung. Hrsg. von Bettina Hesse. Rowohlt: Reinbek 2002.
Das Päckchen. Erzählung. In: Von Sinnen. Ein erotisches Lesebuch. Hrsg. von Bettina Hesse. Rowohlt: Reinbek 2001.
Knickerbocker. In: Schreiben. Lesen. Hören. 6. Autoren Reader. Hrsg. vom Kultursekretariat NRW. Klartext: Essen 1997.
Broker, Schere, Frau. Erzählung. In französischer und englischer Übersetzung (Le Courtier, le Sécateur, la Femme; Broker, Shears, Woman) In: shaken not stirred. Pépinières européennes pour jeunes artistes. Hrsg. von Thomas Seelig. 1996
Baskenland. In: Wenn der Kater kommt. Hrsg. von Martin Hielscher. Kiepenheuer & Witsch: Köln 1996.
Die Frechener Hauptstraße. In: Ganz unten fließt der Rhein. Kölner Autoren über den Platz, den sie lieben. Hrsg. von Jochen Arlt. Horlemann: Unkel/Rhein 1993.
Liebe am Nachmittag. Erzählung. In: Umarmungen. Die besten Geschichten des Montblanc-Literaturpreises 1992. Hrsg. von Joseph von Westphalen. Piper: München 1992.
Die Liebe am Nachmittag. Erzählung. In: potztausend. Edition Kölner Texte, Bd. 1. Hrsg. von Norbert Hummelt u. E. Skoruppa. Emons: Köln 1992.
Reichstag. Romankapitel. In: Die Zeit danach. Neue deutsche Literatur. Hrsg. von Helge Malchow u. Hubert Winkels. Kiepenheuer & Witsch: Köln 1991.

Unveröffentlicht:
Die Piratin. Erzählung. 1994.
Reichstage oder Die Suche nach dem Glück Roman. 2001.
Der kleine Schneck. Eine Bilderbuchgeschichte. Zusammen mit Beate Prantner.

Literaturaktionen im öffentlichen Raum (u.a):
1999 'Fragte man jetzt nach ihrem Glück'. Eine Literaturaktion im Botanischen Garten von Köln. In Zusammenarbeit mit der Kulturstiftung der Stadtsparkasse Köln.
1997 Wortmenus - Literatur in den Schautafeln und Speisekarten von Restaurants im Münsterland.
1994 Frechener Texte. Literaturaktion. In Zusammenarbeit mit der Kulturstiftung der Kreissparkasse Köln.
1991 Die Große Woche. Erzählung und Literaturaktion in Baden-Baden.

Außerdem literaturkritische Arbeiten für den Kölner Stadtanzeiger und den Deutschlandfunk.

Kölner Autorenlexikon 1750-2000. Bd. 2: 1900-2000. Emons: Köln 2002.

Betreff: Ihr Bericht vom 17.6. über das Künstlerdorf Schöppingen

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ihr letzter Bericht über das Künstlerdorf Schöppingen ('Auch das Künstlerdorf muss sparen') hinterlässt einen zwar sachlichen, aber eher freudlosen Eindruck, der dem Alltag dort nicht ganz gerecht wird. Dem will ich hier entgegenwirken, indem ich nur einmal Servicebereich, Verpflegung und Arbeitsbedingungen erwähnen möchte.

Wie vielleicht schon bekannt ist, wird von unserem Stipendium (monatlich satte fünftausend Mark) ein Teil für den Servicebereich einbehalten (bei mir rund 130 DM, allerdings ohne Strom). Dafür werden die Betten gemacht, das Geschirr gespült und abends vor dem Schlafengehen (es ist eine ländliche Gegend) die Wohnungen nach Spinnen und ähnlichem Getier abgesucht.

Gegen elf in der Frühe (vorher ist eh keiner wach) erwartet uns regelmäßig ein liebevoll gedecktes Frühstücksbüfett. Manche der Stipendiaten/innen erscheinen mit neuen Bekanntschaften vom vorangegangenen Abend, und so ist es zumeist sehr kurzweilig.

Danach ist erst mal Mittagspause. Gegen Vier schließt sich Teatime an und gegen acht wird ein warmes Essen angeboten, in der Regel Münsterländer Hausmannskost (Panhas, Bohnen mit Speck oder auch mal Pfefferpotthast, dazu Altbier bis zum Abwinken).

Von drei bis vier und von sechs bis sieben liegen die sogenannten Kernarbeitszeiten, auf deren Einhaltung der Herbergsvater achtet. Um nur einmal von meiner Arbeit zu sprechen: Wenn ich einen Einfall habe, rufe ich Lieschen, die Schreibkraft, die den Literaten zur Verfügung steht, und diktiere ihr vom Schaukelstuhl aus. Haben zwei Autoren zur gleichen Zeit einen Einfall, kann es zu Engpässen kommen. Aber das ist zum Glück selten. Hat Lieschen auch eine Idee, schreibt sie die einfach dazu. So kommt im Laufe der sechs Monate ganz schön was zusammen.

Bei den bildenden Künstlern kenne ich mich nicht so aus. Ich weiß nur, dass sie für die Kernarbeitszeiten Otto, den Hausmeister, zur Verfügung haben. Der ist gelernter Schlosser und Anstreicher und soll, wie es heißt, handwerklich sehr geschickt sein.

Zum Ausklang des Tages wird ein Mitternachtsimbiss gereicht. Obwohl das auch sehr angenehm sein kann, ist mir die Teatime am liebsten, vor allem wenn die Herbergsmutter ihren leckeren Napfkuchen mit Rosinen gebacken hat. Ist Christina Rau da (wir duzen uns hier alle, so als wären wir in der selben Partei), bringt auch sie ihren Napfkuchen mit. Allerdings ohne Rosinen. Der ist dann meist etwas trockener.

Mit freundlichen Grüßen

Jochen Langer

(Leserbrief in den Westfälischen Nachrichten 24.6.1997)

Auskunft Autor, Lexikon, Kölner Autorenlexikon

Aktualisiert 04.07.2021