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Eva Markert


Eva Markert © privat
Eva Markert
1951
Ratingen
Ratingen
Rheinschiene, Rheinland komplett
Prosa, Thriller/Kriminalroman, Kinder-/Jugendbuch, Sachbuch, Anthologie

Arbeitsproben (2)

 

Aus: EIN GANZ BESONDERER ADVENTSKALENDER. EINE WEIHNACHTSERZÄHLUNG

Opas Adventskalender

Im Dezember stand Mona immer besonders gern auf. Noch vor dem Anziehen öffnete sie ein Türchen ihres Adventskalenders. Darauf freute sie sich jeden Morgen. Einmal, weil sie Schokolade so gern mochte. Aber auch, weil Weihnachten wieder einen Tag näher gerückt war.
Dieses Jahr hatte Opa ihr einen Adventskalender nur mit Bildern geschenkt.
Zuerst war Mona nicht sonderlich begeistert. Ein Schokoladenkalender wäre ihr tausendmal lieber gewesen.
Natürlich wollte sie Opa nicht zeigen, dass sie enttäuscht war, doch er merkte es trotzdem. "Du wirst sehen, Mona", munterte er sie auf, "das ist ein ganz besonderer Kalender. Die Bildchen sind bestimmt wunderhübsch. Als ich ungefähr in deinem Alter war, hatte ich auch mal so einen. Ich erinnere mich noch genau: Es war die spannendste Adventszeit, die ich je erlebt habe." Mona betrachtete den Kalender. Besonders spannend sah er nicht aus, aber ganz nett. Er war ziemlich groß. Ein kunterbunter Weihnachtsbaum war darauf abgebildet, der über und über mit Kerzen, Girlanden, Schleifen und Kugeln geschmückt war. Auf der Spitze steckte ein goldener Stern. Unter dem Tannenbaum lagen viele in buntes Papier eingewickelte Geschenke mit großen Schleifen.
"Vielen Dank, Opa", sagte sie höflich. "Ich bin schon gespannt auf die Bilder hinter den Türchen." Und das stimmte – zumindest halbwegs.

1. Dezember
Der Mond
Als Mona am 1. Dezember aufwachte und das Licht anknipste, fiel ihr Blick sofort auf den Adventskalender. "Schade! Keine Schokolade", dachte sie, und:
"Juhu! Heute darf ich das erste Türchen aufmachen." Sie sprang aus dem Bett und tapste auf bloßen Füßen hin. Es war gar nicht einfach, auf dem großen Bild die Nummer 1 zu finden und das Türchen aufzuknibbeln.
Mama kam herein und sah zu.
"Oooh", machten beide bewundernd, als Mona das Türchen endlich aufbekam. Ein kugelrunder Mond mit roten Wangen, langer Nase und freundlichen Augen lachte ihnen entgegen.
"So ein tolles Bild hatte ich noch nie im Adventskalender", meinte Mona.
"Es sieht aus, als könnte man den Mond anfassen und aus dem Bild herausnehmen." "Und schau mal, wie wunderbar die Farben leuchten", rief Mama, "das Gelb, und dieses Rot ..." Mona guckte sich das Bild an diesem Tag noch öfter an. Das tat sie bei Schokoladenkalendern nie.
Als sie abends ins Bett gehen wollte – oder besser gesagt, als sie ins Bett gehen musste –, geschah etwas sehr Merkwürdiges. Sie öffnete die Tür zu ihrem Zimmer und schrie auf. Vor Schreck, vor Überraschung, vor Freude – alles gleichzeitig!
Im Zimmer war es schummrig. Jemand hatte die Vorhänge zugezogen, sodass kein Licht von draußen hereinfiel. Und über ihrem Bett ...
"Mama!", schrie Mona. "Komm mal ganz schnell her!" Über ihrem Bett leuchtete ein rundes, gelbes Gesicht mit roten Wangen, freundlichen Augen und einem lachenden Mund: ein Mond, genauso einer wie in Opas Adventskalender!
"Nanu? Wo kommt denn diese Laterne her?", wunderte sich Mama.
"Hast du sie nicht aufgehängt?"
"Nein."
"Oder Papa?"
"Der auch nicht. Er war die ganze Zeit mit mir im Wohnzimmer." Mona starrte den Mond an. "Das verstehe ich nicht." "Das ist fast ein kleines Wunder", meinte Mama.
"Können wir die Laterne heute Nacht brennen lassen?" "Ja, sicher!" Mona kletterte eilig ins Bett. Bestimmt machte das Einschlafen beinahe Spaß, wenn man dabei eine leuchtende Mondlaterne angucken konnte.
Und so war es auch.


Aus: IM SCHATTEN DES ENGELS

Nach einem Autounfall steht Sarah Norden dem Todesengel gegenüber, der ihr eine zweite Chance gewährt: Sarah darf ins Leben zurückkehren, um lieben zu lernen. Ein Jahr ist ihr hierfür gegeben - ein Jahr, in dem sie versuchen will, ihrem Mann Robert die Liebe entgegenzubringen, die er ihrer Ansicht nach verdient. Doch da ist auch noch der verheiratete Tierarzt und Vater zweier Kinder, Matthias Wulf, und es stellt sich die Frage, ob Sarah die Erwartungen des dunklen Engels letztlich erfüllen kann.

Kapitel 1
Sarah Norden blickte aus dem Fenster. Der Abreisetag war gekommen. Robert und sie hatten ihr erstes gemeinsames Weihnachten und den Jahreswechsel an der holländischen Nordseeküste verbracht. Der trübe, diesige Januartag passte so richtig zu ihrer Abschiedsstimmung.
Sie ließ ihre Blicke schweifen. Der große Frühstücksraum des Hotels war um diese Zeit schon fast leer. An einem
Tisch in der Ecke saß eine Familie – Vater, Mutter und ein Baby in einem Hochstuhl. Es brabbelte vor sich hin, sein
Körper war ständig in Bewegung. Sarah lächelte.
Das Kind begann zu greinen. Die Mutter gab ihm ein rotes Plastikauto, das es sofort in den Mund steckte. Dann
quietschte es fröhlich und warf das Spielzeug auf den Boden. "Jonathan!", rief der Vater streng. Die Frau flüsterte ihm etwas zu.
Sarah konnte sich denken, was sie sagte: "Er weiß doch noch nicht, dass er das nicht darf."
Zumindest würde sie das sagen. Und sie konnte sich vorstellen, was Robert darauf antworten würde: "Erziehung
beginnt bereits am ersten Tag." Oder so was Ähnliches.
Der leise Wortwechsel zwischen den Eltern war beendet. Die Mutter nahm das quengelnde Kind auf den Schoß. Der Mann goss sich eine weitere Tasse Kaffee ein.
"Muss der jetzt noch mehr Kaffee trinken?", dachte Sarah.
"Warum guckst du eigentlich die ganze Zeit zu den Leuten rüber?", fragte Robert, der ihr gegenübersaß.
"Das Ehepaar hat so ein niedliches Baby."
"Woher weißt du, dass sie verheiratet sind?"
"Ich nehme es an. Weil sie ein Kind haben."
"Aber Spätzchen!" Robert lachte amüsiert auf. "Dazu braucht man doch heutzutage keinen Trauschein mehr!"
"Mir ist es vollkommen egal, ob sie verheiratet sind oder nicht. Mich interessiert nur der kleine Junge."
Robert öffnete den Mund.
"Er heißt Jonathan", fügte sie schnell hinzu, ehe er anmerken konnte, dass sie nicht wissen könne, welches
Geschlecht das Baby hatte.
In diesem Augenblick fing der Kleine lauthals an zu brüllen.
Robert warf einen missbilligenden Blick nach hinten. "Grauenvoll!" Er schüttelte sich. "Kinder können eine wahre
Pest sein."
"Ich hätte so gern welche! Ich bin immer ganz traurig, wenn du so was sagst."
"Das begreife ich nicht. Du bist doch den ganzen Tag in der Kita mit Blagen beschäftigt! Reicht dir das nicht?"
"Ein eigenes Kind, das ist etwas ganz anderes", widersprach Sarah. "Ich bin sicher, auch du …"
"Lass uns lieber das Thema wechseln. In diesem Punkt werden wir uns nie einig werden."
Plötzlich bekam Sarah Lust auf einen Nachtisch und holte sich ein Buttercroissant.
Robert schaute sie verwundert an. "Nanu, Spätzchen, bist du noch hungrig?"
"Ich will das schöne Frühstücksbuffet zum letzten Mal so richtig auskosten."
"Pass bloß auf, dass dir nicht wieder übel wird!"
"Das glaube ich nicht", erklärte Sarah zuversichtlich. "Ich habe schon lange keine Magenbeschwerden mehr gehabt."
"Siehst du?" Robert legte eine Hand auf ihren Arm und strahlte sie an. "Die Ehe tut dir gut."
"Sieht ganz so aus." Sarah lachte.
Robert gab ihr einen Kuss auf die Wange. "Na, dann lass es dir schmecken!" Er grinste. "Du weißt ja: Ich finde, dass du ein bisschen mehr an den richtigen Stellen durchaus vertragen könntest."
Sarah seufzte. "Man kann sich seine Figur leider nicht aussuchen."
"Das stimmt nicht ganz." Robert strich über seinen flachen Bauch. "Sieh mich an: alles Muskeln. Man braucht sich
nur vernünftig zu ernähren."
Ärger flammte in ihr auf. Mit einer heftigen Bewegung legte sie das Croissant auf dem Teller ab. "Mehr Busen und
Hintern kriegt man davon aber nicht."
"Ich spreche vor allem von einer gesunden Lebensweise."
"Besonders gesund sind die zwei Schachteln Zigaretten, die du täglich rauchst", zischte sie.
Robert zog die Augenbrauen zusammen. "Was ist denn los mit dir? Warum bist du auf einmal so giftig?"
"Tut mir leid." Sarah stand auf. "Ich hole mir einen Orangensaft. Soll ich dir einen mitbringen?"
"Nein, danke."
Das klang kurz angebunden. Also war er verärgert. Sarah trank schweigend ihren Saft, Robert schaute stumm vor sich hin. Die Kellner begannen, die Tische abzuräumen.
"Ich glaube, wir stören hier", sagte sie. "Geh schon mal bezahlen, ich packe schnell den Rest in unsere Koffer."
Sie fuhr zu ihrem Zimmer hinauf und suchte die fehlenden Sachen zusammen. Kurze Zeit später erschien Robert.
"Ich habe alles geregelt. Unser Gepäck können wir an der Rezeption lassen."
"Wozu?"
"Sag bloß, du willst sofort nach Hause fahren."
"Ja, natürlich.
"Aber wir können noch den ganzen Tag hier verbringen!"
"Es wird früh dunkel, und ich möchte nicht im Dunkeln unterwegs sein."
"Du sitzt doch nicht am Steuer. Und mir macht es nichts aus."
"Hast du das Wetter gesehen?"
"Es ist ein bisschen bedeckt", erwiderte Robert. "Na und? Hauptsache, es bleibt trocken."
"Bestimmt gibt es heute noch Regen."
"Ach was! Sei nicht immer so pessimistisch."
Sarah wurde nervös. "Ich wollte aber heute schon die Koffer auspacken und mindestens eine Maschine Wäsche
waschen."
"Für solch einen Mist willst du einen ganzen Urlaubstag opfern?!"
Es hatte keinen Zweck zu diskutieren. Wenn Robert nicht wollte, dann wollte er nicht. Also gab Sarah nach. Das war besser, als den ganzen Tag seine schlechte Laune zu ertragen.


Kapitel 2
In ihren Wetterjacken standen sie vor dem Hotel.
"Sitzt meine Brille gerade?", fragte Robert.
"Ja", antwortete Sarah, ohne hinzusehen. Er fragte sie das mehrmals am Tag, und seine Brille saß immer perfekt.
Robert nahm ihre Hand. "Wir gehen durch die Dünen." Sein Blick fiel auf den Knirps, den Sarah in der anderen Hand hielt. "Was willst du denn damit? Ich hab doch gesagt, es wird nicht regnen."
"Davon bin ich nicht überzeugt."
Robert zuckte die Achseln. "Wie du meinst. Wenn du das Ding unbedingt die ganze Zeit mit dir herumschleppen
willst …"
Sie nahmen den Dünenweg, der direkt hinter dem Hotel begann. Es war beschwerlich zu laufen, denn ein scharfer
Wind blies ihnen ins Gesicht. Wolken jagten über den Himmel. Für einen kurzen Moment kam die Sonne hervor.
"Siehst du?", rief Robert triumphierend. "Von Regen keine Spur."
Als sie jedoch eine gute Stunde gegangen waren, zog es sich ganz zu, und bald fielen die ersten Tropfen. Sarah
öffnete ihren Schirm. Es war nicht einfach, ihn bei diesen heftigen Böen festzuhalten. Immer wieder schlug er um.
Robert sah eine Weile zu, wie sie mit ihrem Schirm kämpfte. "Gib her, Spätzchen", sagte er schließlich.
"Danke."
Robert ging langsam weiter und achtete sorgsam darauf, dass Sarah nicht nass wurde. Er selbst bekam nur wenig von dem Schutz des Regenschirms ab. Nach kurzer Zeit war seine linke Seite völlig durchnässt.
Trotzdem sah er sie mit einem besorgten Blick an. "Nicht, dass du dich erkältest. Lass uns in eine Strandbude gehen und einen Tee trinken."
Sarah war es recht. Hauptsache, sie kamen aus dem Regen heraus.
Roberts Brille beschlug, als sie in den geheizten Raum traten. Seine Augen hinter den Gläsern waren nicht mehr zu erkennen. Sarah kicherte. "Du siehst aus wie ein Zombie."
Robert hob drohend den Zeigefinger. "Machst du dich etwa über deinen Ehemann lustig?"
"Ja", erwiderte Sarah schlicht.
Lachend setzten sie sich an einen Tisch.
"Auch wenn ich durch meine Brille nichts sehen kann – sitzt sie wenigstens gerade?"
"Alles in Ordnung."
Unter dem Tisch griff er nach ihrer Hand. "Es war ein wunderschöner Urlaub, findest du nicht?"
"Ich habe die Zeit auch sehr genossen."
Mit dem Daumen streichelte er ihren Handrücken. "Dieser hübsche, kleine Ort, das Meer, die Dünen … Aber das
Schönste war, dass wir die ganze Zeit für uns hatten."
Sie drückte seine Finger. "Das finde ich auch."
Die Kellnerin kam, Robert bestellte zwei Tee und einen Apfelpfannkuchen.
Verblüfft blickte Sarah ihn an. "Hast du schon wieder Hunger?"
Er zwinkerte ihr zu. "Der ist für dich", antwortete er. "Du magst doch so gern Apfelpfannkuchen."
Sarah hatte nach dem reichlichen Frühstück überhaupt keinen Appetit. Doch sie sagte nichts, um ihn nicht zu
enttäuschen.
Der Pfannkuchen war riesig. Sie sah sofort, dass sie ihn auf gar keinen Fall bewältigen konnte. Langsam begann sie zu essen.
"Schmeckt’s dir, mein Spätzchen?"
Sie nickte mit vollem Mund. Er freute sich darüber, seine Augen leuchteten.
Mit großer Mühe zwängte sie ein Viertel des Pfannkuchens in sich hinein. Dann schob sie Robert den Teller hin.
"Willst du auch?"
"Nein, der ist für dich. Außerdem bin ich noch satt vom Frühstück."
Sarah lehnte sich zurück. Sie griff nach der schmalen, goldenen Kette, die sie um den Hals trug, und spielte mit dem Anhänger, einem Posaunenengelchen. "Ich kann auch nicht mehr, leider."
Bedauernd schaute er auf den Teller. "Schade um den schönen Pfannkuchen!"
Inzwischen hatte es sich eingeregnet. Die Tropfen liefen an den großen Fensterscheiben des Strandpavillons herunter.
Am Horizont verschwammen Wasser und Himmel im grauen Dunst.
Robert zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch gedankenverloren in ihre Richtung. Sie wandte den Kopf ab.
Irgendwann ließ der Regen nach und ein schmaler, blassblauer Streifen zeigte sich am Himmel. "Das ist das Schöne an der See", stellte Robert gut gelaunt fest. "Schlechtes Wetter kann sich von einer Minute auf die andere ändern."
Sarah lachte. "Gutes Wetter ändert sich aber genauso schnell."
Wie ein Wolkenschatten zog es über Roberts Gesicht. "Warum bist du bloß immer so negativ?"
"Ich wollte nur einen Scherz machen."
"Ach so." Er half ihr in die Wetterjacke und legte den Arm um sie. "Auf geht’s."
Sie nahmen denselben Weg zurück. Sarah hing ihren Gedanken nach. Morgen würde sie die Kinder in ihrer Gruppe wiedersehen. Den kleinen Niklas. Und vielleicht auch seinen Vater.
Sie betrachtete Robert von der Seite. Er hielt den Blick starr nach vorn gerichtet. "Woran denkst du?", fragte sie.
"An nichts Besonderes."
Sie machte noch einen Versuch. "Ich denke gerade an den Kindergarten. Ich freue mich darauf. Andererseits muss man sich nach einem schönen Urlaub erst wieder an den Alltag gewöhnen."
"Mm."
"Hoffentlich kommen wir heute Abend gut durch. Und hoffentlich sind wir morgen nicht allzu müde …"
"Ach, Sarah", fiel er ihr ins Wort. "Du siehst schon wieder schwarz!"
Eine solche Einstellung war Robert unbegreiflich. Er selbst rechnete stets mit dem Allerbesten. Vor der Ehe war er
noch geduldig mit ihr gewesen. Aber in den paar Monaten, die sie verheiratet waren, hatte sie wohl schon alle
Nachsicht aufgebraucht, die er für sie aufbringen konnte.
Gegen drei Uhr nachmittags erreichten sie das Hotel. Sarah blieb stehen und blickte aufs Meer hinaus. "Auf
Wiedersehen, liebe Nordsee", sagte sie in Gedanken. "Ich hoffe, ich komme bald wieder." Es war merkwürdig: Jedes Mal, wenn sie vom Meer Abschied nahm, beschlich sie leises Unbehagen. Es war so eine Art Vorahnung, oder nein – es war das Wissen, dass der Tag kommen würde, an dem sie das Meer zum letzten Mal sah. Der Gedanke, dass die See weiter wogen würde, dass endlos Wellen auf den Strand zurollen und sich überschlagen würden, auch wenn sie nicht mehr da war, erfüllte sie mit Ehrfurcht, aber auch mit tiefer Melancholie.
Sie versuchte, ihre Beklemmungen abzuschütteln. "Gehen wir die Koffer holen."
"Die Koffer holen?", wiederholte er langgezogen, als hätte sie etwas ganz und gar Abwegiges gesagt. "Wir wollten
doch noch in den Ort und etwas einkaufen."
"Davon war keine Rede."
"Ich bitte dich! Das versteht sich doch von selbst."
Sarah schaute auf die Uhr. "Wir sollten besser sofort aufbrechen. Außerdem bezieht es sich wieder."
"Ach was! Komm, Spätzchen!" Er zog sie mit sich fort.
Als sie endlich Richtung Heimat fuhren, brach bereits die Dämmerung herein. Ein leichter Nieselregen hatte
eingesetzt. Mehrmals schloss Sarah die Augen, weil die grellen Scheinwerfer entgegenkommender Wagen sie
blendeten.
Als sie auf die Autobahn auffuhren, war es Nacht geworden. Robert beschleunigte. Nervös zupfte Sarah an ihrer
Kette. "Fahr nicht so schnell", bat sie.
"Ich dachte, du wolltest so rasch wie möglich nach Hause."
Robert wechselte auf die linke Fahrspur. Er überholte mehrere Lastwagen. Jedes Mal wenn ihr Auto an solch einem
gewaltigen Transporter vorbeifuhr, wurde es vom Fahrtwind geschüttelt und zur Seite abgedrängt. Als ein besonders heftiger Windstoß das Fahrzeug packte, stieß sie unwillkürlich einen Schreckensruf aus.
"Keine Angst, Spätzchen. Ich habe alles im Griff."
Die Fahrbahn war rutschig. Einmal scherte das Heck aus und das Auto schlingerte. Wieder schrie Sarah auf.
"Spätzchen!" Roberts Stimme klang gereizt. "Du darfst mich nicht so erschrecken! Wenn du alle Augenblicke
losschreist, haben wir am Ende tatsächlich einen Unfall."
Sarah wünschte, er würde sie nicht dauernd Spätzchen nennen. "Fahr langsamer", sagte sie, "mir zuliebe."
Robert seufzte. "Na gut. Damit du mich nicht auf der ganzen Rückfahrt nervst, gehe ich jetzt auf die rechte Spur und krieche hinter den Lastern her."
Er setzte den Blinker.
Von hinten näherte sich ein großer Lastkraftwagen mit Anhänger.
Robert zog nach rechts.
Der Lastkraftwagen fuhr sehr schnell.
Robert hatte sich verschätzt, wollte nach links ausweichen, doch der Verkehr war zu dicht. Er hatte keine andere
Wahl und trat das Gaspedal durch.
Zu spät! Das Transportfahrzeug krachte in den Wagen hinein und schob ihn zusammen wie eine Ziehharmonika.
Die Gestalt, die am Fußende des Bettes aufragte, war von einer Aura umgeben.
"Wer … wer bist du?", stammelte Sarah.
"Du weißt es."
Die Gesichtszüge des Engels waren ebenmäßig, von klassischer Schönheit wie die einer griechischen Statue. Sein
Antlitz wurde von tiefschwarzen Locken umrahmt. Er trug ein langes, schwarzes Gewand und hatte mächtige, schwarze gefiederte Schwingen. Es war das schwärzeste Schwarz, das Sarah jemals gesehen hatte.
"Wer bist du?", wiederholte sie.
"Du weißt es."
Sarah schüttelte eigensinnig den Kopf, sie wollte es nicht wahrhaben.
Der Todesengel schwebte auf sie zu. Seine Füße, die unter dem langen Gewand hervorschauten, berührten den Boden nicht. Das Licht, das aus seinen Nachtaugen brach, verströmte Wärme. Er streckte beide Hände aus. "Komm."
Sein Anblick erfüllte Sarah mit einer unbestimmten Sehnsucht.
"Komm, Sarah."
Dass er sie bei ihrem Namen nannte, machte sie aus irgendeinem Grund glücklich. Ja, sie wollte mit ihm gehen,
wohin er sie auch bringen würde. Wie von selbst hob sie beide Hände, um sie in seine zu legen.
In diesem Augenblick stöhnte Robert auf.
Sarah stockte und schaute zu ihm hin.
Er neigte sich über ihren Körper. Seine Brille saß völlig schief. "Sarah", flüsterte er, "Spätzchen, bitte …"
Und dann sah sie, dass er weinte.
Unendliches Mitleid durchflutete sie. Sie zog ihre Hände zurück und kreuzte die Arme vor der Brust. "Ich kann nicht mit dir kommen."
Der Engel blickte sie abwartend an und streckte weiterhin seine Hände nach ihr aus.
"Ich kann nicht. Er liebt mich."
Langsam ließ der Engel die Arme sinken. "Zeige es mir." Seine Stimme dröhnte wie der tief klingende Ton einer
mächtigen Glocke.
Und Sarah blickte tief in seine nachtschwarzen Augen.


Eva Markert lebt in Deutschland und in den Niederlanden. Vor ihrer Pensionierung war sie Studienrätin mit den Fächern Englisch und Französisch und sie besitzt ein Zertifikat für Deutsch als Fremdsprache. Außerdem ist sie staatlich geprüfte Übersetzerin. In ihrer Freizeit arbeitete sie viele Jahre als Lektorin und Korrektorin in einem kleinen Verlag mit. Sie übersetzt Bücher aus dem Englischen, Französischen und Niederländischen ins Deutsche und schreibt selbst Kinder- und Jugendbücher, Romane sowie Kurzgeschichten. Die meisten Texte veröffentlichte sie als Indie-Autorin. Viele ihrer Kurzgeschichten sind aber auch in Anthologien enthalten. Zwei Weihnachtsbücher für Kinder erschienen in einem kleinen Verlag.

2006: 1. Preis im DeLiA - Kurzgeschichtenwettbewerb

Alle Jahre wieder. Zwölf mehr oder weniger weihnachtliche Geschichten. dreamteam ebooks: o.O. 2017.
24. und 25. Dezember. Weihnachtsgeschichten für Mütter und Großmütter. dreamteam ebooks: o.O. 2013.
Im Schatten des Engels. Liebesroman. Aavaa: Berlin 2011.
Potpourri des Bösen. Zwanzig verbrecherische Geschichten. dreamteam ebooks: o.O. 2011.
Blumen des Grauens. Dreizehn unheilvolle Geschichten. dreamteam ebooks: o.O. 2010.
Bizarre Blüten. Dreizehn seltsame Geschichten. dreamteam ebooks: o.O. 2010.

Seines Bruders Hüter. Ein Brandtner-Johanning-Krimi. Band 4. dreamteam ebooks: o.O. 2019.
Die Gutmenschin. Ein Brandtner-Johanning-Krimi. Band 3. dreamteam ebooks: o.O. 2017.
Kein Herz und eine Seele. Ein Brandtner-Johanning-Krimi. Band 2. dreamteam ebooks: o.O. 2011.
Familiengeschichten. Ein Brandtner-Johanning-Krimi. Band 1. dreamteam ebooks: o.O. 2010.

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Amelie und Amos feiern Weihnachten. Geschichten für die Kleinsten. dreamteam ebooks: o.O. 2015.
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Amos fährt in den Schwarzwald. Geschichten für die Kleinsten. dreamteam ebooks: o.O. 2015.
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Amelie geht schlafen. Gute-Nacht-Geschichten für die Kleinsten. Band 1. dreamteam ebooks: o.O. 2014.
Prinzessin Feuerrose und die Tintenrosenelfen. Rosenelfengeschichten. Band 4. dreamteam ebooks: o.O. 2014.
Prinzessin Feuerrose und die Rosarosenelfen. Rosenelfengeschichten. Band 3. dreamteam ebooks: o.O. 2014.
Prinzessin Feuerrose und die Schneerosenelfen. Rosenelfengeschichten. Band 2. dreamteam ebooks: o.O. 2014.
Prinzessin Feuerrose und die Honigrosenelfen. Rosenelfengeschichten. Band 1. dreamteam ebooks: o.O. 2014.
Ein ganz besonderer Adventskalender. Eine Weihnachtserzählung. Dr. Ronald Henss: Saarbrücken 2014.
Ticky begegnet Tieren. Sterngeschichten. Band 2. dreamteam ebooks: o.O. 2013.
Ticky lernt die Erde kennen. Sterngeschichten. Band 1. dreamteam ebooks: o.O. 2013.
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Spuk, Musik und Kriminelle. dreamteam ebooks: o.O. 2013.
Mats und das Buch aus der Kiste. dreamteam ebooks: o.O. 2013.
Die Väter-Casting-Liste. dreamteam ebooks: o.O. 2013.
Adventskalender zum Lesen und Vorlesen. Vierundzwanzig weihnachtliche Geschichten für Kinder. Dr. Ronald Henss: Saarbrücken 2011.
Ronja und der Weihnachtsmann. dreamteam ebooks: o.O. 2010.
Jonas und der Weihnachtsteufel. dreamteam ebooks: o.O. 2010.
Anne im Bauch. dreamteam ebooks: o.O. 2010.
Der Stalker. dreamteam ebooks: o.O. 2010.
Herzenswut. dreamteam ebooks: o.O. 2010.

Der liebe Gott und das Wetter. In: Großvater erzählt Reisegeschichten. Hörbuch. Hänssler: Holzgerlingen 2008.
Und den Menschen ein Wohlgefallen. In: Äpfel, Nüsse, Pfefferkuchen. Hörbuch. Hänssler: Holzgerlingen 2008.

Hilfe! Ich bin eine Niete in Französisch. Ein Ratgeber und Übungsbuch für gestresste Schüler. o.V.: o.O. 2014.

Entscheidung am Spätnachmittag. In: Kunterbunt und kurz geschrieben. An Interactive German Reader. Hrsg. von James Pfrehm. Yale University Press: New Haven 2012.
Die Prinzessin mit dem Herzkirschenmund und der Frosch. In: Schneewittchen und die sieben Geißlein. Hrsg. von Claudia Thoß. fhl: Leipzig 2010.
Lina isst gern Gummibärchen. In: Weihnachten. Geschichten und Märchen. Hrsg. von Irina Piechulek. Sperling: Nürnberg 2010.
Eiskalt. In: Dark Ladies I. Hrsg. von Alisha Bionda. Fabylon: Markt Rettenbach 2009.
Die Tücke der Objekte. In: Textknacker 5./6. Jahrgangsstufe. Lesetexte besser verstehen. Hrsg. von Erhard und Monika Hirmer. pb: München 2004.

Zahlreiche Weihnachtsgeschichten in Anthologien, die im Dr. Ronald Henss Verlag erschienen sind.
Zahlreiche Kurzgeschichten in Anthologien des Schreiblust-Verlages.

Bitte lächeln! 23 Humorgeschichten. Gem. mit Sabine Ludwigs. Schreiblust: Dortmund 2010.

Auskunft Autorin

Aktualisiert 04.07.2021