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Sevim Kocyigit


Sevim Kocyigit © privat
Sevim Kocyigit
1956
Görmürgen (Mittelanatolien/Türkei)
Gelsenkirchen
Gelsenkirchen
Ruhrgebiet, Westfalen komplett
Prosa

Arbeitsproben (1)

 

Aus: FINGERSCHMERZ. GESCHICHTE EINER TÜRKIN

Am 26. Mai 1974 verließ ich unser Dorf. Wenn ich so zurückdenke und mich an meine Kindheit und Jugend und all meine damaligen Erlebnisse erinnere, muß ich sagen, daß ich, ohne überhaupt eine größere Stadt in der Türkei gesehen zu haben, damals direkt nach Deutschland ging. Meine Eltern gaben mir Tabletten, damit ich die Reise besser vertrüge. Es war schließlich meine erste Reise überhaupt. Vor dem Flugzeug hatte ich eine Riesenangst, denn ich war vorher noch nicht einmal mit einem Bus gefahren.

Ich riß mich zusammen. Aber irgendwie kam mir diese ganze Reise vor wie ein Traum. Ich habe kaum etwas bewußt miterlebt.

Zuerst fuhren mein Schwager Erol und ich mit dem Bus ins achtzig Kilometer entfernte Kayseri. Dort ging es mit einem anderen Bus weiter nach Istanbul. Achthundert lange Kilometer. Die Fahrt dauerte zwölf Stunden, denn es gab damals noch keine ausgebauten Autobahnen.

In Istanbul blieben wir eine Nacht in einem Hotel. Am nächsten Morgen fuhren wir mit unserem Gepäck zum Flughafen. Dort waren Menschenmassen, und außer türkisch hörte ich viele andere Laute, ich sah Geräte, die in der Luft herumflogen wie Riesenvögel, und dann war da das große, dicke Ding, in dessen Bauch die Menschen und ihr Gepäck und schließlich auch ich verschwanden - für mich war das alles unfaßbar.

Wie sollte ich das verarbeiten? Hätte mir dies alles vorher jemand erzählt, ich hätte es ihm nicht geglaubt.

Am 28. Mai landeten wir in Düsseldorf. Ich schaute ganz durcheinander nach allen Seiten. Ich hatte mir vorgestellt, daß alle Menschen so wären wie die Leute in unserem Dorf. Auf einmal merkte ich, daß die Menschen hier eine andere Sprache sprachen als wir. Ich konnte sie überhaupt nicht verstehen. Ich wußte zwar, daß es ein Deutschland gab, aber ich hatte überhaupt nicht gewußt, daß die Menschen hier eine andere Sprache sprechen würden.

Ich kam mir vor wie eine Schlafwandlerin. Meine Gedanken irrten durcheinander. Dann spürte ich, wie jemand ganz leicht meinen Arm nahm. Ich sah eine blonde Frau, die mich festhielt. Ich dachte, ich würde auf der Stelle vor Angst ohnmächtig werden. "Wohin bringst du mich?" fragte ich, aber die Frau verstand mich nicht. Da riß ich mich zusammen und dachte daran, daß unsere Sprachen verschieden waren. Mein Schwager kam mir zu Hilfe. "Wohin bringt sie mich?" fragte ich ihn. "Schwägerin, habe keine Angst, sie bringt dich zum Zoll, damit dein Gepäck kontrolliert werden kann", antwortete er.
Ich war mit meinen Nerven fast am Ende. Hier sollte ich leben? (...)

Ich kannte nichts von diesem Land, in dem ich jetzt schon einige Zeit lebte. Ich kannte nicht einmal die Stadt, in der mein Mann arbeitete, und ich kannte nicht den Stadtteil und kannte nicht die Straße, wo wir wohnten; ich kannte nicht einmal die Menschen, die im gleichen Haus wie ich lebten.

Wir wohnten in einem zweistöckigen Gebäude. Außer uns, die wir unterm Dach hausten, gab es noch zwei Familien in dem Haus, eine im Erdgeschoß, eine im ersten Stock. Die beiden anderen Familien besuchten sich gegenseitig, wir hatten zu ihnen keinen weiteren Kontakt. Guten Tag, das war alles, was man miteinander sprach. Ich war neu hier, die anderen kannten sich schon lange.

Meine Nachbarinnen luden mich ein, sie zu besuchen, doch das mußte ich ablehnen, da mein Schwiegervater es nicht erlaubte. Mein Schwiegervater erlaubte mir gar nichts. Meine Tage und meine Nächte verbrachte ich hinter Mauern, die ich kaum von außen sah, wie im Gefängnis.

Mein Schwiegervater hatte von Anfang an zu mir gesagt: "Du bist jetzt in Deutschland. Hier gibt es viele verschieden Menschen. Wenn ich nicht zu Hause bin, dann öffne niemals die Tür, laß keinen hinein. Die Welt ist schlecht." Er sagte es so oft, daß ich schon richtig Angst bekommen hatte, eine große Angst, sogar vor meinem eigenen Schatten fürchtete ich mich. Bisher hatte ich nichts gesehen von diesem Land, also habe ich auch alles geglaubt, was man mir erzählte.

Ich war eingesperrt. Mein Mann konnte sich gegen meinen Schwiegervater nicht auflehnen, denn er hatte bei ihm Schulden, also mußte er den Mund halten. Als ich einmal darum bat, aus dem Haus gehen zu dürfen, sagte mein Schwiegervater: "Sie entführen und vergewaltigen dich. Alle Männer in Deutschland sind schlecht und behandeln dich wie Dreck. Und die deutschen Frauen sind freizügig und haben keine Moral. Sie lassen sich auf der Straße küssen, haben kein Schamgefühl, und das können wir unseren Frauen nicht zumuten. "Mein Schwager stimmte ihm zu. Beide sagten, wenn ich aus dem Hause gehen würde, würde ich schmutzig werden, und eine schlechte Frau wollten sie nicht im Hause haben.


Geboren 1956 in Görmürgen in Mittelanatolien (Türkei). Seit ihrem siebzehnten Lebensjahr lebt sie in Gelsenkirchen, seit 1994 besitzt sie einen deutschen Paß. "Fingerschmerz: Geschichte einer Türkin" ist ihr erstes Buch, zu dem einen vor gut drei Jahren auf türkisch im Selbstverlag herausgegebene Broschüre die Vorlage bildete. In Zusammenarbeit mit der Übersetzerin Claudia Hürzat (Gelsenkirchen) entstand die seit 1997 auf deutsch vorliegende, erweiterte Fassung ihrer Lebensgeschichte. Sevim Kocyigit arbeitet derzeit an einem Band mit Gedichten.

Fingerschmerz. Geschichte einer Türkin. Biografischer Roman. Übersetzung: Claudia Hürzat. Hrsg. und bearb. von Herbert Knorr. Henselowsky Boschmann: Essen 1997.

Auskunft Autorin, Eigenrecherche

Aktualisiert 04.07.2021