Volker König

Aus: IN ZUKUNFT CHILLINGHAM

Tom

In einer gänzlich aus der Mode gekommenen Stadt, in einer Nebenstraße, die diese Bezeichnung mehr als verdient, im Erdgeschoss eines bis auf seinen hohen, stabilen Zaun nicht sonderlich auffälligen Hauses war nur ein einziges Fenster schwach erleuchtet. Hinter diesem Fenster hockte Tom Kampe vor einem Schaltpult mit grünen Lampen, die die Stromversorgung der hochkomplizierten Apparaturen in der Etage über ihm anzeigten. Außer den grünen Lampen überwachte Tom eine handvoll Monitore, die mit rund um das unscheinbare Haus strategisch platzierten Kameras verbunden waren. In einer Ecke des Zimmers standen ein kleiner Fernseher, den er nicht benutzen durfte, und eine Kaffeemaschine, die er nicht benutzen wollte.
In regelmäßigen Abständen musste er einen Kontrollgang machen. Dazu würde er die Mütze aufsetzen, die Jacke mit dem Firmenemblem überziehen, das Funkgerät und den Elektroschocker an das Koppel und das Schlüsselbund daneben hängen. Er würde durch die Gänge des Gebäudes laufen, mit dem Schlüsselbund klimpern, eine leichte Melodie pfeifen, Türklinken drücken, Lichtschalter anknipsen, in erleuchtete Räume spähen, Lichtschalter wieder ausknipsen und so eine Atmosphäre verbreiten, die einem Eindringling unmissverständlich klarmachen sollte, dass es hier jemand bei aller Lässigkeit wirklich ernst meinte.
Eigentlich war Tom gar nicht sein richtiger Name sondern Tomerdingen. Seinen Eltern hatte es gefallen, ihn so zu nennen, weil sie es einst nahe Ulm in einem kleinen Kaff dieses Namens in einer überteuerten Pension getrieben hatten und davon überzeugt waren, dass dieses Treiben den Jungen erschaffen hatte, einen Jungen mit einem nervösen Leiden, das sich im Zucken seines rechten Auges bei Anspannung äußerte.
Die Vorfahren von Tomerdingens Mutter waren britischer Abstammung, und tatsächlich ließ sich die Blutlinie bis zu Archie Trout zurückverfolgen.
In Amerika wäre sein Name sicherlich keine große Sache gewesen, denn da hießen die Leute Denver, Chicago, Alabama oder Cincinnati, wahrscheinlich aus demselben Grund, den Toms Eltern für hinreichend gehalten hatten. Dort, wo der kleine Tomerdingen allerdings aufgewachsen war, bedeutete ein solcher Name, dass man das Pausenbrot für seine Ruhe hingeben und beim Birnenklau Schmiere stehen musste. Glücklicherweise ließ sich die weit angenehmere Abkürzung Tom daraus machen. Doch die war in der Grundschule ganz schnell in den Hintergrund getreten, als ein sogenannter bester Freund den eigentlichen Namen herausposaunt hatte. Erst mit seinem Wechsel auf die höhere Schule bot sich Tom die Gelegenheit zu seiner Umbenennung. Dafür dankte er dem Himmel und auch dafür, dass seine Mutter nicht in Wattenscheid ihre fruchtbaren Tage gehabt hatte.
Tom Kampe wendete seinen Blick von besagter Nebenstraße ab. Keine Vorkommnisse. Wie immer. Allenfalls jetzt ein wenig Nieselregen. Kaum zu sehen waren die feinen Tropfen, wie sie die Straßenlaterne umpuderten. Er warf einen Blick auf die Wanduhr. 1:05 Uhr. Der erste Kontrollgang in seiner Nachtschicht stand an.
Tom Kampe schnallte seine Ledertasche auf und vergewisserte sich ihres Inhaltes. Eine Dose mit Butterbroten, die Thermoskanne mit Tee, ein Apfel, eine Broschüre seiner Firma und ein halbes Dutzend Hochglanzheftchen. Er zog den Stapel Heftchen heraus, klemmte ihn sich unter den Arm, ließ seinen Blick noch einmal über die Kontrollinstrumente schweifen und machte sich dann auf den Weg ins Obergeschoss.