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Susanne Konrad


Susanne Konrad © Michael Kleinespel
Susanne Czuba-Konrad
Susanne Konrad
1965
Bonn
Frankfurt am Main
Dortmund, Köln, Bonn
Ruhrgebiet, Westfalen komplett, Rheinland komplett
Prosa, Herausgeberschaften, Anthologie
Schreibworkshops für Erwachsene
Ja

Arbeitsproben (2)

 

EINE JUNGE AUTORIN

Sie hat keine Angst vor dem Schreiben. Sie sagt, wenn ich an einem Tag zwei Stunden schreibe, brauche ich den ganzen Tag für mich. Kein anderer Beruf kann das Schreiben ersetzen. Die Angst, mit Arbeit zugehäuft zu werden und nicht mehr schreiben zu können, ist größer als die Angst vor dem stillen Tag. Wenn sie die Augen aufmacht, sieht sie die Zimmerdecke und der Tag fängt ganz leise an zu ticken. In den Bettdecken liegt noch der Balsam einer ruhigen Nacht. Dann sitzt sie am Frühstückstisch. Das Teewasser brodelt. Ein Sonnenstrahl dringt durch das Fensterchen an der östlichen Seite. Es ist ihr Tag. Sie isst das Brot langsam. Den ersten Bissen schmeckt sie, den nächsten vergisst sie. Eine schöpferische Kraft bewegt sich hinter ihrem Brustbein und die Energien strömen aufwärts. Erste Wörter und halbe Sätze formen sich zu einem möglichen Gedicht. Noch schreibt sie nicht. Sie geht erst durch die Straßen und erreicht den Park. Das ist der Vormittag. Einige Studenten liegen schon auf den Wiesen, und einige Ältere. Die Greise sitzen auf den Bänken. Die junge Schriftstellerin setzt sich zu ihnen. Sie lehnt sich zurück und schließt die Augen. Nein, sie muss die Krümel nicht sehen, die den Spatzen zugeworfen werden. Sie muss nicht sprechen. Gedichtsplitter reihen sich aneinander und formen sich um. Die Einsamkeit ist nur ein durchsichtiger Faden, der unter den Zehennägeln mit einer Nadel eingestochen wird und langsam den Körper emporwächst. Das Gedicht schnürt die Brust zu und blockiert den Weg. Der Tag ist still. Am Abend schreibt die junge Schriftstellerin ihren Text, dann steht sie noch am Fenster Richtung Süden und schaut in die Nacht.

Die junge Autorin war schon erwachsen, als sie mit dem Schreiben begonnen hatte. Schreiben hatte ihr zwar immer etwas bedeutet, aber es war noch nicht der Weg gewesen, den sie verfolgte. Sie lebte in einem Land, in dem die politischen Verhältnisse schwierig waren und dachte daran, nach Deutschland zu emigrieren. Aber sie war sich noch nicht sicher. In ihrer Muttersprache schrieb sie Artikel über die Situation der Frauen und kam mit verschiedenen Zeitschriften in Kontakt. Die ersten literarischen Texte entstanden erst in Deutschland, sie waren in ihrer Muttersprache geschrieben. Die Sprache der Heimat aber war in Deutschland eine Sprache versprengter Minderheiten. In einem Literaturkreis von Emigrantinnen wurde geschrieben und gesprochen. Aber nichts drang über den engen Rahmen hinaus. Im deutschen Sprachraum war die Muttersprache isoliert und tot. Die junge Autorin beschloss, ihre Texte zu übersetzen. In einer Arbeitsgruppe zu dritt versuchten sie es. Aber die Texte begannen sich unter der Übersetzung zu winden und zu drehen. Sie wurden andere. Der Text war nur im Original er selbst. Beim Übersetzen kamen neue Ideen. Es waren deutsche Ideen, die zu den ursprünglichen nicht passten. Sie drohten sich gegenseitig die Ellbogen zu brechen. Aus diesem Engpass sprang die junge Autorin einen Schritt nach vorn und begann, auf Deutsch zu schreiben.

Deutsch ist schwierig für sie. Anfangs konnte sie sich kaum vorstellen, auf Deutsch zu schreiben, das war ihr bewusst, und sie litt darunter. Aber zugleich reizte es sie. Es ist nicht leicht, aber interessant, auf Deutsch zu schreiben. In der deutschen Sprache formuliert die junge Schriftstellerin ein neues und anderes Leben. Indem sie einen Satz anders aufbaut und neue Wörter setzt, erlebt sie auch neu. Über ihre ursprüngliche Identität hat sich eine neue, eine zweite gelegt. Lebensgewohnheiten, die in die gesprochenen Sätze eingewoben sind, werden durch neue überlagert, die in den Ritzen der Sätze einer anderen Sprache wohnen. In ihrer Muttersprache sagt sie ständig "wir", denn alles ist sozial, ist familiär. Auf Deutsch sagt sie öfter "ich". Die Deutschen, findet sie, leben auch viel vereinzelter. Das schlägt sich in ihrer Sprache nieder.

Es bedeutete eine jahrelange Arbeit, bis sie sich im Deutschen beweglich genug vorkam. Allmählich entdeckte sie den Hintergrund der Sprache, aber es sind immer noch Einschränkungen da. Ein Vorteil dabei ist, dass man die Sprache nicht so selbstverständlich nimmt. Man geht anders mit ihr um. Die junge Schriftstellerin entscheidet bewusst, welchen Ausdruck sie verwendet. Die Deutschen reden in philosophischen Kolloquien, in denen sie Deutsch sprechen, über die Differenz zwischen einem Begriff und dem, was er meint. Für die junge Autorin aus einem fernen Land, die in Deutschland lebt, vibriert diese Fremdheit selbst in jedem deutschen Wort. Wie ein Kind, das auf Strümpfen läuft, so bewegt sich die junge Autorin in der deutschen Sprache. Schritt für Schritt erlebt und erfährt sie jede neue Idee, die sich auf Deutsch formt. Sie ist der Meinung, dass ein Erwachsener, der eine fremde Sprache lernt, eine zweite Kindheit erlebt.
Sie braucht noch immer Zeit, wenn sie auf Deutsch schreiben will. An einem Tag muss viel Platz sein, der Tag muss sich dehnen können und Raum und Leere müssen sich soeben die Waage halten.

Mit dem Schreiben erschließt sie sich Welten. Welten, in denen sie sich wohlfühlt, weil sie mehr Möglichkeiten bieten als das reale Leben. Schreiben heißt Gestalten. Schreiben bedeutet das Formen von Augenblicken, die sonst einfach vergehen würden: Ohne Gestalt und ohne Ergebnis. Schreiben heißt Entscheiden.
Sie sitzt am geöffneten Fenster und schaut hinaus. Wieder einmal ist es Abend geworden, ein Abend in Deutschland, aber noch ist Sommer. Leicht bläst ein Luftzug in die Manuskriptseiten auf dem Küchentisch.

Aus: Wortwandlerinnen


DAS BLAU DER FÜNF SEEN

Die Wohnung ist dunkel. Die Vorhänge sind zugezogen und erlauben nur einen schmalen Lichtschein vom Garten herein. Du liegst im Bett. Ich halte deine warme Hand. Eine Hand, adrig und schwach. Dein Brustkorb bewegt sich auf und nieder, gleichmäßig und immer wieder in Unruhe. Leichte Unruhe. Leichter Atem. Die einst lockigen Härchen darauf sind schütter geworden. Sie sind weiß. Nicht mehr grau. Schon lange nicht mehr braun. Ich beuge mich über dich. Streichle deine glatte Stirn. Küsse deine trockenen Lippen. Meine Finger tasten deinen Körper entlang bis zu deiner kleinen Morchel.
Ich bin so gern allein mit dir.
Ich stehe auf. Ziehe deine Bettdecke zurecht. Bald kommt der Pflegedienst, um den Katheter zu wechseln und dich ins Badezimmer zu bringen. Tätigkeiten, die zu schwer für mich sind. Für mich, die nicht mehr junge Frau. Die Frau, die dich liebt. Ich füttere dich. Püriertes Obst, püriertes Fleisch, püriertes Gemüse. Den Saft trinkst du aus der Schnabeltasse. Schluck für Schluck.  
Mein Lieber. Mein Liebster. Mein Allerliebster.
Wie ich dich zum ersten Mal sah ...
Über zwanzig Jahre ist es her. In der Holsteinischen Schweiz, auf einer Bootsfahrt durch die Fünf-Seen, zwischen Malente und Plön. Ich war mit meiner Mutter auf dem Schiff. Du auch, mit einem Freund. Wir saßen uns gegenüber. Nur eine Tischplatte trennte uns. Eine Tischplatte und die Zeit. Ihr, zwei Männer um die sechzig. Der eine mit Halbglatze, rundlich, mit Brille. Der andere warst du. Mit schmalem weißem Haarkranz und dazu den hellblauesten Augen, die man sich vorstellen kann. Helle, klare Augen voller Wärme. Hans Albers wäre niemand dagegen gewesen.
Während meine Mutter und ich darüber verhandelten, ob wir Würstchen bestellen wollten, erfreutet ihr beiden Herren euch an einem Kaffee. Du sprachst meine Mutter an.
"Wir wohnen in Grömitz an der Ostsee", erklärte Mama, "und wir machen einen Abstecher hierher."
Das Schiffchen legte in Plön an.
Da fragtest du meine Mutter, ob wir nicht Lust hätten, zu Fuß zur Altstadt von Plön zu laufen, es gebe einen sehr schönen Weg am See. Du und dein Begleiter, ihr lächeltet freundlich. Ich sah jetzt, dass du ein Stück größer als der andere warst. Ich selbst reichte dir knapp bis zur Schulter. Ihr stelltet euch als "Max" und als "Ernst" vor – Schulfreunde aus Wiesbaden, die durch Schleswig-Holstein reisten. Welch eine Überraschung! "Ingrid" und "Kirsten" verrieten wir "Frankfurterinnen" unsere Namen. Mama nickte mir zu und wir folgten euch einen wahrhaftig schönen Fußweg am Ufer entlang. Das Sonnenlicht spielte auf der Wasseroberfläche, die nur von kleinen, waldigen, runden Inseln unterbrochen war, der ganze See war von Wald umgeben.
"Was machen Sie in Frankfurt?", wandtest du dich direkt an mich.
Ich zuckte mit den Achseln, "arbeiten", sagte ich mit einem Räuspern. Die Frage nach Kindern wollte ich nicht hören, denn die Zeit war an mir vorbeigeronnen und ein großer Wunsch hatte sich nicht erfüllt.
"Und Sie in Wiesbaden?", fragte Mama keck zurück, um mir die Verlegenheit zu ersparen.
"Ich bin Rechtsanwalt", erklärte Max.
"Und ich Geschäftsmann, wenn Sie das jetzt nicht erschreckt", sagtest du. Dabei ruhten deine Blicke auf mir und schon lange nicht mehr auf meiner Mutter.
"Nein, nein! Warum sollte es", murmelte ich. "Ich bin Filialleiterin in einer Drogeriekette." – Aber es macht mir schon lange keinen Spaß mehr – fügte ich in Gedanken hinzu.
"Da haben wir ja beide kaufmännische Erfahrungen", freutest du dich. "Wir sollten uns einmal darüber austauschen."

Was du nicht wissen konntest, war, dass es fünf Jahre her war, dass mich mein Freund Günter verlassen hatte. Fünf lange Jahre. Jahre, in denen ich ums Überleben kämpfen musste, Jahre schließlich, in denen ich als ausgebildete Kauffrau im Einzelhandel meinem Chef gerade recht kam – Mitte 30, Single, kinderlos – Jahre schließlich, die ich für mein Leben verlor.
Du schautest mir in die Augen, schienst etwas zu ahnen von dem Kummer, der mich plötzlich überschattete. Du fragtest nicht weiter, zeigtest auf den See.
"Sehen Sie diese Schönheit?", sagtest du leise. "Was empfinden Sie, wenn Sie das sehen?"
Mein Herz pochte. "Da weitet sich das Herz", flüsterte ich. "Wie schön, dass wir Ihrem Rat gefolgt und nicht ins erstbeste Restaurant gelaufen sind", fügte ich mit sicherer Stimme hinzu.
Du wandtest dich deinem Begleiter Max zu und ihr tauschtet leichte Worte. Smalltalk pflegte Max auch gegenüber Mama. Du dagegen strahltest viel mehr Verbindlichkeit, mehr Wärme aus. Der Waldweg am Ufer war zu Ende. Durch eine Wohnsiedlung erreichten wir die Altstadt von Plön mit der Nikolaikirche und dem höher gelegenen Schloss. In einer der zahllosen Bäckereien in der Fußgängerzone stärkten wir uns mit Pflaumenkuchen. Das weiß ich noch: Du und ich, wir bestellten ihn ohne Sahne, Max und Mama mit.
Ich betrachtete deine Hände. Langfingrig und adrig. Kein Ring. Kein Schmuck. Auch meine Finger waren nackt. Ob du es wahrnahmst? Du hieltest die Kuchengabel geschickt in der Hand, aßt unbefangen drauflos. Ich fand es sehr schön, dir beim Essen zuzusehen. Genau das beunruhigte mich. Was gingst du mich an?

Aus: Die Liebenden von Wiesbaden. Novelle. Größenwahn: Frankfurt am Main 2017.


Geboren 1965 in Bonn, aufgewachsen in Dortmund. Susanne Konrad lebt und arbeitet in Frankfurt am Main. Sie studierte Literaturwissenschaft und Geschichte in Konstanz und Frankfurt am Main. 1995 promovierte sie über Goethes "Wahlverwandtschaften". 2005 erschien ihr erster Roman "Camilles Schatten". Die Autorin hat (auch als Susanne Czuba-Konrad) Fachbücher zu den Themen "Integration" und "Kreatives Schreiben" veröffentlicht, ferner zahlreiche literarische und redaktionelle Beiträge. Schwerpunkte ihrer schriftstellerischen Arbeit sind der Entwicklungsroman sowie Prosa zu den Themen Diversität, Heimat, lokale Identität.

2021: Brückenstipendium von der Hessischen Kulturstiftung im Rahmen des "Kulturprojekt II: Perspektiven öffnen, Vielfalt sichern" (Mai bis November 2021)
2017: Arbeitsstipendium vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst

Walzer mit Mr. Spock. Erzählungen. edition federleicht: Frankfurt am Main 2020.
Die Liebenden von Wiesbaden. Novelle. Größenwahn: Frankfurt am Main 2017.
Die Akademikerin. Roman. Größenwahn: Frankfurt am Main 2015.
Traumgespinst. Roman. Schweitzerhaus: Lindlar 2013.
Rauchen verboten! Persiflage. Schweitzerhaus: Erkrath 2011.
Camilles Schatten. Roman. Brandes & Apsel: Frankfurt am Main 2005 (zweite überarbeitete Auflage: DeWinterWaldorfGlass (DWG): Frankfurt am Main: 2023).

Das Flüstern aus der Stille. Erzählung. Auf: www.trauernetz.de (ein Angebot der evangelischen Kirche).

Kreativ und mutig. Der Weg zum eigenen Buch trotz psychischer Belastungen. Antheum: Rostock 2022.
Emotionen. Gefühle literarisch wirkungsvoll einsetzen. Autorenhaus-Verlag: Berlin 2007.
Kalbachs letzter Bürgermeister Rudolf Lade. Eine Lebens- und Ortsgeschichte aus dem 20. Jahrhundert. Brandes & Apsel: Frankfurt a.M. 2001.
Integration. Eine pädagogische Handreichnung. Grenzüberschreitungen. Band II. Hg. Verband der Initiativen in der Ausländerarbeit. Brandes & Apsel: Frankfurt a.M. 2000.
Goethes "Wahlverwandschaften" und das Dilemma des Logozentrismus (Dissertation). Carl Winter: Heidelberg 1995.
Die Unerreichbarkeit von Erfüllungen in Theodor Fontanes Romanen "Irrungen, Wirrungen" und L'Adultera". Peter Lang: Frankfurt a.M. 1991.

Wichtigster Zeitschriftenartikel:
Angeschlagene Schönheiten. Der etablierte Literaturbetrieb, der neue Untergrund und vom Sichtbar-Werden, wenn man kein strahlender Sieger ist. In: Federwelt. Zeitschrift für Autorinnen und Autoren, Nr. 127, Dezember 2017 (www.autorenwelt.de/blog/federwelt/angeschlagene-schoenheiten-literatur-im-wandel).

Weitere Veröffentlichungen sind auf der Website der Autorin zu finden.

Frankfurter Einladung 2: Urige Gassen, liebliche Orte & geheimnisvolle Plätze. Größenwahn: Frankfurt am Main 2019.
Frankfurter Einladung. Erzählungen, Geheimnisse und Rezepte. Größenwahn: Frankfurt am Main 2016.
Wortwandlerinnen. Brandes & Apsel: Frankfurt a.M. 2010.

Kürschners Deutscher Literaturkalender 2018/2019, 71. Jg., Band 1, A-O. De Gruyter: Berlin, New York 2019.
Aura. Jahresgabe 18/19. Hrsg von Historisches Museum Frankfurt. Bibliothek der Generationen. 2019.
Bürger, die Geschichte schreiben. Stadtteilhistoriker 2014-2016. Hrsg. von Stiftung Polytechnische Gesellschaft. 2018.
Kathrin Rosendorff: Kleinverlage bringen die Autoren erst hoch. In: Frankfurter Rundschau, 12.10.2017.
Marie-Sophie Adeoso: Aus Liebe zum Stadtteil: Susanne Konrad lässt Zugezogene über Frankfurts Quartiere erzählen. In: Frankfurter Rundschau, 10.03.2017.

Auskunft Autorin

Aktualisiert 27.09.2023