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Dr. phil. Wulf Noll


Dr. phil. Wulf Noll © privat
Dr. phil. Wulf Noll
1944
Kassel
Düsseldorf
Düsseldorf
Rheinschiene, Rheinland komplett
Prosa, Lyrik, Kritiken
Becherstraße 2
40476 Düsseldorf
0211-467835
0151-43538840

Pressedaten

Erläuterungen und Bedingungen

Pressefotos und Logos zum Download in der Datenbank LITon.NRW

Das Westfälische Literaturbüro in Unna e.V. pflegt im Rahmen der NRW-Literatur-Online-Datenbank LITon.NRW (ehemals www.nrw-literatur-im-netz.de) seit Herbst 2003 eine Foto-Datenbank mit hochauflösenden Fotos von Autor*innen sowie Fotos und Logos von literarischen Institutionen und Projekten aus NRW. Der Service richtet sich an Medien und Literaturveranstalter*innen, die auf diese Weise unkompliziert an Pressefotos und/oder Logos gelangen können. Dieser Service ist (in der Regel) kostenlos. Wenn ein*e Autor*in / eine Institution / ein Projekt Pressefotos bzw. Logos zur Verfügung gestellt hat, ist unter dem jeweiligen Profilfoto das bzw. die entsprechende/n Symbol/e aktiv (anklickbar). Klickt man darauf, klappt bei den Pressefotos ein neues Menü aus, worüber sich das/die Foto/s herunterladen lassen; bei den Logos öffnet sich direkt ein neues Fenster, worüber diese direkt heruntergeladen werden können. Einem Download steht nichts entgegen, wenn die folgenden Nutzungsbedingungen akzeptiert werden:

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Arbeitsproben (13)

 

CAFÉ 'PETER CAT'

Yumiko war sehr jung, hatte gerade die Oberschule hinter sich gebracht, und besuchte in Tokyo öfters das Café von Haruki Murakami. Das Café hieß "Peter Cat" und lag in Sendagaya im Bezirk Aoyama. Am liebsten ging sie mit einer oder mit zwei Freundinnen hin und zwar zu der Zeit als sie sich auf die Kunsthochschule vorbereitete, aber auch danach. Sie mochte das Café wegen der besonderen Atmosphäre. Es war ein Jazzcafé, in dem sich Studenten aufhielten, aber kein lautes Café, sondern eines, in dem man beobachten und zu den Rhythmen der Musik "swingen" konnte. Vom zweiten Stock aus fiel der Blick auf die Straße und auf die auf den Bürgersteigen flanierenden Leute. Die jungen Frauen saßen gerne am Fenster und kommentierten oder lästerten über die Mode der Vorübergehenden.

Murakami stand hinter der Theke und bereitete selbst den Kaffee oder Tee zu, und seine Freundin servierte. Der Kaffee kostete damals nur 380 Yen. Yumiko und Chinatsu, die endlich die Aufnahmeprüfung für die Kunsthochschule bestanden hatten, waren darauf aus, sich von den anderen Leuten zu unterscheiden. Als angehende Malerinnen trugen sie farbverspritzte T-Shirts, hautenge Blue Jeans und Schuhe mit hohen Absätzen. Auf dieses nicht mehr bürgerliche Aussehen waren sie stolz. Endlich fühlten sie sich frei, die Zeit der Schuluniform war vorbei, und sie fürchteten sich vor nichts und niemandem mehr. Jetzt wollten sie sich selbst verwirklichen.

Was für eine Zeit! Die jungen Frauen dachten, sie könnten mit sechs oder sieben Pinseln und mit etwas Ölfarbe die Welt verändern. Yumiko trug, wenn sie ins Café ging, ein Werk von Wittgenstein oder von Sartre unter dem Arm oder ließ es aus der Hängetasche hervorschauen, um den Anschein von ‘high-brow' und ‘cool' zu erwecken, obgleich ihr die Lektüre bloß Kopfschmerzen bereitete. Keinesfalls wollte sie den Eindruck einer gewöhnlichen Japanerin hervorrufen; sie wollte ganz anders sein und gab sich bei den Klängen der Jazz-Musik ihren Träumen hin.

Gelegentlich brachte Murakami die Getränke selbst. Doch manchmal standen Yumiko und Chinatsu an der Theke und unterhielten sich mit ihm. Sie wußten, daß er schreibt, aber nicht was und worüber er schreibt. Seine spätere Berühmtheit ließ sich nicht erahnen. Aber Murakami hatte schon damals einen ‘American dream', man konnte ein bißchen daran teilhaben. Aus Japan weggehen, wollten sie ja alle einmal. Murakami plauderte manchmal mit seinen Gästen ins Blaue hinein. In "Wilde Schafsjagd" sucht sich der Protagonist seine Freundinnen nach deren Ohrform aus; ihn erotisiert eine besonders reizvolle Ohrschnecke, vielleicht auch ein graziler Halsansatz. Vermutlich hatte Murakami keinen Mangel, im Café die Ohrformen von jungen Frauen zu beobachten, besonders wenn sie das Haar hochbanden oder das Ohr mittels großer und schwerer Ohrringe betonten.

"Wilde Schafe", vielleicht auch "wilde Katzen", ist eine schöne, sinnreiche Metapher für junge Frauen, besonders für Kunststudentinnen. Der Logo des Cafés "Peter Cat" zeigt eine Katze, die auf einem Ast sitzt, so zum Beispiel als Leuchtreklame und auf den kaffeehauseigenen Streichholzschachteln. Jedes aufflammende Streichholz läßt an kleine heiße Katzen denken, an die wilden, poppigen Kinder, welche der japanischen Gesellschaft gerne ein bißchen entgegenfauchen.

Peter Cat ist eine Figur aus "Alice in Wonderland". ‘Wonderlands' liegen immer woanders, zum Beispiel in Amerika. Alice küßt Wittgenstein. Murakami bringt seine Fans zum Träumen. Er führt diese neugeborene lost generation in Fitzgerald's Paradies. Sanfter Session-Jazz und Jazz der ‘Blue-Note-Series' erfüllen abwechselnd den Raum und lassen in den Köpfen der Hörer die Gaukelbilder der inneren Verrücktheit erscheinen. Die jungen Frauen hören nicht, daß jemand sie anspricht, sie haben sich dem Rhythmus und einer starken innerlichen Bewegung hingegeben. Ihre Füße in den Schuhen mit den hohen Absätzen schaukeln.

Aus: Momtarostraße. Erzählungen aus Japan (dt., jap., ung.).


AM GRAB BASHOS: BANANENBLÜTE

Robert ist des öfteren in Kyoto gewesen. Der Yasaka-Schrein in Gion mit seinem gepflegten Park, der hochhackige und stolze Kiyomizudera, der ‘Tempel des klaren Wassers auf dem Hügel der rauschenden Feder', der auf hölzernen Stelzen steht, und die bezaubernde Gegend von Arashiyama im Nordwesten der Stadt haben es ihm angetan. Neuerdings ist auch der Bahnhof von Kyoto eine Sehenswürdigkeit; Bahnhof ist ein anachronistischer Begriff. Dieser Bahnhof ist eine ober- und unterirdische Stadt in der Stadt, ein technologisches Labyrinth, den Entwürfen berühmter Architekten entsprungen, die sich jede Mühe gaben, aus dem Bahnhof einen unübersehbaren Ort der postmodernen Dekonstruktion zu machen.

Kyoto ist heute nicht das Ziel, sondern die jenseits des Hie-Berges gelegene Stadt Otsu am Biwa-See. Robert möchte das Grab von Basho besuchen, das in in einem Vorort in der Nähe des Sees liegt. Er denkt an Yumiko, die sich im fernen Deutschland aufhält, doch Susanne und deren Freundin Midori machen sich mit auf den Weg. Sie nehmen in Kyoto einen der Züge, der Kyoto mit Otsu verbindet und durch Wälder und einige Ortschaften fährt.

Nachdem sie die Bahnstation verlassen haben, spazieren sie an traditionellen Häusern vorbei abwärts in Richtung des Sees. Bashos Grab liegt in einem wildverwachsenen Garten in einer kleinen Tempelanlage. Basho, der in der Nähe Kyotos geboren war, liebte den Biwa-See und seine milden Klimata. In einem Haiku heißt es: "Dem vorbeiziehenden Frühling habe ich/ zusammen mit den Leuten von Omi/ nachgeschaut." Die ‘Leute von Omi' sind die Leute, die in der Nähe des Sees lebten. Matsuo Basho, der aus einer Samurai-Familie stammende Dichter, zog sein Leben lang von Ort zu Ort. Nicht wie die Mönche, die nach Erlösung suchten, einsam, sondern mit Schülern und Freunden reiste er zu den herausragenden Landschaften. Wenn Basho ermüdete, brannte er Moxapulver und Kampfer an Knien und Fußgelenken ab und zog weiter, denn für ihn war das Reisen die Quelle der Inspiration.

Bekannt sind nicht nur Bashos Haiku, sondern auch seine Reisetagebücher, Kiko. Die Kiko und Haiku korrespondieren. Von den Lehren des Tao und des Zen beeinflußt, folgt Basho dem hohen Stil und ‘sabi', der kontemplativen Stille. In "Wegbericht einer Wanderfahrt nach Sarashina" (Sarashina kiko) schreibt Basho: "Den vollen, runden Mond über dem Obasute-Berg beim Flecken Sarashina wollen wir schauen. Damit hatte der mich unaufhörlich bedrängende Herbstwind Unruhe in mein Herz hineingeweht. Außer mir gab es noch einen, der von dieser Sehnsucht nach Wind und Wolken besessen war, Etsuji hieß er. Auf der Kiso-Straße ragen die Berge hochauf, steil ist der Weg. Und weil er sich Sorge um unsere Fähigkeiten auf der Wanderschaft machte, hatte uns Freund Kakei seinen Diener mitgegeben."

Nach atemberaubendem und gefährlichem Aufstieg in der Nacht folgt die Rast in einer Herberge. Dort feiern die Umherziehenden beim Reiswein das Fest des Vollmonds. Doch die zu groben Reisweinschalen entsprechen nicht dem feinen Geschmack eines Hauptstädters wie Basho. Sein Blick fällt von der allzuschlecht lackierten Schale auf den kleinen mondbeschienenen Ort, und er notiert: "Auf seine Mitte/ möcht' ich mit Goldlack malen:/ Mond bei der Nachtrast."

Basho starb nicht in Otsu, sondern in Osaka. Sein letztes Gedicht ist wohl das folgende: "Vom Wandern schwer krank:/ Ein Traum, der dürre Heide/ Im Kreise durchirrt". Später brachte man Bashos Urne zu dem Anwesen nach Otsu zurück, das ihm Gönner überlassen hatten und das er so sehr liebte. Dieses Anwesen ist jetzt die Tempelanlage. Bashos Haus steht noch im Garten. Die Tatami-Matten sind erneuert worden, und Robert, Midori und Susanne können auf Strümpfen die kleinen Räume betreten. Robert setzt sich nieder und verharrt schweigend.

Im Garten stehen Bananenstauden, von denen eine blüht. Sie entfaltet ihren mächtigen weiß-gelben Blütenkranz wie ein Rad, vielleicht wie das Rad des Kreislaufs und der Wiederkehr. Doch sie blüht nur ein einziges Mal, dann aber auf längere Zeit. Basho liebte die Bananenblüte so sehr, daß er sie zu seinem Dichternamen erkor. Robert betrachtet die besondere Blüte, die er zum ersten Mal sieht, in tiefer Versunkenheit. Das macht den Wärter der Anlage auf ihn aufmerksam. Der Wärter tritt verwundert auf Robert zu und zupft dann eine Blütenfaser aus dem Kelch, nur für ihn. Der Wärter läßt ihn das aromatische Fruchtwasser, den süßen Nektar, schmecken.

Vom Nektar betört, geht Robert zur Gedenkstätte, zum Grab, zurück und klatscht, auf japanische Sitte, zum Geist Bashos in die Hände.

Nachdem Susanne, Midori und Robert den Tempel, in dem die Poesie verehrt wird, verlassen haben, gehen sie zum Biwa-See. Die Stadt hat sich längst bis dicht an den See ausgebreitet. So vieles am Ufer ist verbaut worden, doch sie entdecken einen kleinen Uferpark mit Promenade und spazieren ein Stückchen am See entlang. Ausflugsschiffe haben rechts und links der Ufer anlegt. Es ist windig, fast stürmisch geworden, und Susannes blondes Haar flattert sowohl lockend als abweisend im Wind. Es erzählt dem Windgeist seine Geschichte.

Nach Einbruch der Dunkelheit suchen die Spaziergänger ein Restaurant auf, das im siebten Stock eines Kaufhauses liegt. Von dort aus können sie einen Blick auf den nächtlichen See werfen. Die Lichter der Stadt gleißen und reflektieren auf dem Wasser. Ein einsames Schiff fährt von Anlegestelle zu Anlegestelle. Ein paar merkwürdige Leute sitzen in diesem Restaurant, das einen faszinierenden Blick ermöglicht, essen, schauen auf den See und trinken Sake. Midori wird bald nach Deutschland fliegen, um zu heiraten. Susanne, wird in Sendai wer weiß was tun, vielleicht Tagebücher oder ‘Kopfkissenbücher' schreiben und die Leute zu Lesungen einladen. Robert denkt an Yumiko. Robert möchte in Japan und Yumiko möchte in Deutschland leben, ein eigenwilliges Paar. Susanne lästert über diese Ehe auf Distanz, das sei doch nichts. Robert schreibt einige Verse in Midoris Notizbuch, die sie nach Deutschland begleiten sollen. Jetzt will Susanne auch einen Vers. Robert schreibt: "Der Weg/ zu Bashos Grab/ führt zu dir". Susanne ist begeistert, denn sie liest: "Der Weg/ zu Bashos Grab/ führt zu mir."

Da sie viel Sake und Bier trinken, sind die Mißverständnisse nicht ganz ernst zu nehmen. Im Reisebuch "Auf schmalen Pfaden durch das Hinterland" hat Basho die Gegend um Sendai, besonders die Bucht von Matsushima, so eindrucksvoll beschrieben. Er notiert dort: "Die Flut staut sich in ihr wie an der Mündung jenes Flusses in Chechiang. Unerschöpflich ist die Zahl ihrer Inseln: die da aufragen, deuten wie mit dem Zeigefinger gen Himmel; die da flach sind, kriechen bäuchlings auf den Wellen. Es gibt auch welche, die doppelt übereinander liegen oder dreifach sich schichten." Robert kennt Sendai und Matsushima. Basho schreibt so aufmunternd wie zeitenlos, als würde er nicht nur Midori, sondern auch Susanne meinen: "Eine Landschaft (...) gleich einer Frauenschönheit mit einem Antlitz, kunstvoll zurechtgeschminkt (...) - welcher Mensch könnte sie ausführlich genug mit dem Pinsel oder mit Worten beschreiben?"

Ach, diese Mißverständnisse! Man sollte schweigend die Nacht verbringen oder Gedichte schreiben. Mag sein, daß der Geist Bashos aus dem Nektar der Bananenblüte aufgetaucht ist und sich über Robert und die Flanierenden senkt. Flanierende sind Reisende ohne Ziel, die nach Wandel und Zerstreuung suchen. Das Unwandelbare ist nicht wirklich, nichts ist wirklich, nicht einmal die Nacht, in der Robert mit Midori und Susanne, den beiden schönen ‘Bananenblüten', die leicht an seiner Seite schwanken, lachend und scherzend durch Otsu zieht.


SAKEFLASCHEN

ich will volle
sakeflaschen, auch wenn
es der lauf der dinge
ist, sie auf
den kopf
zu stellen

während yasushi die gefäße
auf den kopf stellt,
schmerzt es in meinem
herzen; das ist
scheußlicher
symbolismus

jedes anzünden
einer zigarette,
das anlegen
einer krawatte,
jeder blick
nach rechts
oder links

ist doppeldeutig
wie dein huldvolles
lachen voller
verrat

ernstsituationen sind
verräterisch wie das
leben, das uns auf
der zunge
zergeht

Aus: Freundliche Grüße aus dem Yenseits. Gedichte aus Japan.


ROLLTREPPEN

wir bewegen uns auf "roll-
treppen"; sie sind nicht
sehr toll, doch sie
sind von delius und
deshalb "delicious"

meine verse kommen nicht
so vornehm raus, sondern
auf packpapier - sind aber
gut gedreht und reif
für 'ne wundertüte

das kommt daher,
weil die seibu rolltreppen-
türme uns das gehen
abnehmen; und ich flanier'
im stehen durch
alle etagen
mit drall

lasse dann von oben herab
gedichtblätter fallen,
die ein winddruck
von unten wieder
hochtreibt

aus selbstzweck; neckisch
kichern seibu puppenfrauen
"alles erste sahne", ich
meine die frauen

ich stelle mir vor, daß
ich mit denen jetzt
immer rolltreppe fahre,
bis es ein kaufhauspolizist
merkt

Aus: Freundliche Grüße aus dem Yenseits. Gedichte aus Japan.


TAUBLUMEN

1.
gäbe es "fleurs du mal"
oder "erkenntnisblumen",
es wären diese hellblauen
taublumen
am atommeiler

dreiblättrig,
lilienähnlich

2.
wenn radioaktivität auftritt,
färben sich die
staubfäden
rot

3.
wenn mein strauß
blauer blumen
purpurn ist,
gehe ich aus diesem
gedicht

und lasse physiker,
politiker und
"atomgurus" strahlend
zurück -

doch das gelingt
mir nicht

Aus: Freundliche Grüße aus dem Yenseits. Gedichte aus Japan.


NÖRDLICH VON TOKYO

es heißt schnell sein,
dem text einen
namen geben:
nördlich von tokyo

nördlich von tokyo
beginnt die verzweiflung -

wir können auch
nördlich von tokyo
am strand liegen

unterhalb mitos,
das geht gerade noch,
um darüber ein gedicht
zu schreiben

das ich einer
butoh-tänzerin schicken
kann, die jede performance
mit ihrem eigenen anfang
beginnt

Aus: Freundliche Grüße aus dem Yenseits. Gedichte aus Japan.


KIRSCHBLÜTEN AUF DER GINZA

1.
die lichter der ginza funkeln,
die letzten strahlen der sonne
brechen sich in den schaufenstern

silberschmiede: kapital
(donnerschmiede: revolution)

hier wippen die frauen von tokyo
mit doppelt hochgesteckter
frisur - nur

der broadway liegt schräger

2.
"wissen sie überhaupt, was sie tun?"
wer weiß das schon so genau,
die winde im april
bewegen die kirschblüten

und so eine blüte tänzelt nun
vor mir her mit den schönsten
hüften, die man sich
vorstellen kann

und ich laufe die ganze zeit
hinter ihr her (ist das nun dumm
oder klug) und denke:
"hey, baby, aishiteru!"

mimik und gestik
sind gestylt,
doch meine dame ist schon
westlich aus der art
geschlagen -

sie schwingt die hüften
die zöpfchen wippen,
und sie flirtet international

3.
unter den nächtlichen lichtern
der ginza schweben kirschblüten
im wind

manchmal steigen sie,
manchmal fallen sie

Aus: Freundliche Grüße aus dem Yenseits. Gedichte aus Japan.


WIE SICH DIE DÜSSELDORFER HEINRICH HEINE VORSTELLEN

gut gekleidet,
im hofgarten flanierend,
noch ein bißchen jung,
doch das legt sich
mit der zeit

jeder geht gerne
mit heine um;
er stellt kein ärgernis dar,
er ist ein richtiges muster
an würde,
ein ehrendoktor der poesie,
dessen name sich
für die biedermänner
der universität
wie von alleine anbietet

er sitzt bei den herren
im rat,
spricht mit linken
und mit rechten,
die ihm reife bescheinigen

und mit medizinern,
die ihm als krankheit
vielleicht seine freundlichkeit
und seine lyrik vorhalten

sonst nichts

man weiß, mit heine
läßt sich viel
staat machen

Aus: Des Rheinturms feine Spitze sticht gen Himmel. Neue deutsche Lyrik, Athanor.


HEINES KOPF

am schwanenmarkt gibt das fragemal,
der zersplittete kopf,
den blick frei für die
dahinterliegenden geistigen
und politischen dimensionen,
die den meister ins verhängnis
stürzten; freilich, nur
für kenner

übt ihr noch immer gewalt
gegen den vaterlandslosen
gesellen, der nach frankreich
ins niemandsland floh,
wo ihm die blumen der freiheit
zu blühen schienen?

sein kopf, ist der nichts
anderes als ein ‘vogelnest
von konfiszierlichen büchern'?
nur die vögel, die am
schwanenmarkt nisten,
sind unschuldig, die allein

denkmal und fragemal:
wird die zeit dunkler als jetzt?

Aus: Des Rheinturms feine Spitze sticht gen Himmel. Neue deutsche Lyrik, Athanor.


VOR ORT

1.
käme heinrich heine
von einer langen wanderung
aus dem niemandsland zurück,
könnte er sich in seinem
'geburtshaus', in 'heines bierakademie',
gut bürgerlich - biedermeierlich
eingerichtet, ein bißchen
aufwärmen

doch angewidert folgte heine
seinen instinkten,
um in die ‘destille' zu gehen
und dort auf kollegen zu treffen,
die zu ihm sagten:
"geh' ins heine-institut
und sieh den leuten
beim arbeiten zu!"

2.
vielleicht würde heine sagen,
daß er im niemandsland keinen
job gefunden hat - oder daß er
an rückenschmerzen leidet,
vielleicht würde er schweigen

"das liegt an dir selber,
heinrich heine, du hast halt
pech gehabt, sowohl im leben
als im tod..."

heine vermißte in düsseldorf
die elegante jüdische welt,
doch dafür träfe
er auf seine japaner

3.
heinrich heine würde fragen,
wie es mit den kommunisten
weitergegangen sei...

"psst, psst, wir leben in
düsseldorf am rhein,
du wirst ausgebürgert, dottore,
drüben bist du eine koryphäe,
doch dort wirst du
auch wieder ausgebürgert,
wenn du nicht linientreu bist

du solltest biermann lesen,
das "wintermärchen" und den
"preußischen ikarus"

du müßtest honecker die referenz
erweisen (und nicht umgekehrt)

4.
heine müßte denken,
das "wintermärchen",
das ist doch von mir.
wenn es eine solche wirkung hatte,

warum hat sich
dann so wenig verändert?

heine verlangte
nach einer bürgerinitiative,
nach petra kelly,
nach ilona vollmar-maek,
nach den köpfen
einer neuen bewegung

von den heineforschern wäre
niemand zuständig,
die wollen unter sich bleiben
und nicht gestört werden -

die wollen forschen.
josef kruse würde sagen,
"geh' mal zu rolfrafael,
der kann dir weiterhelfen..."

Aus: Des Rheinturms feine Spitze sticht gen Himmel. Neue deutsche Lyrik, Athanor.


EINE HERBERGE IN XIAMEN

Dann war es soweit, Lilo/Qianxia/Schönheit und Sigrid/Pingping/
Wasserlinse lächelten den Gastpoeten an: "Wir sind da! Hattest du eine gute Reise?"
Robert: "Ja, die Zeit verging so schnell. Die Landschaft in der Provinz Fujian mit Flussläufen und Bergketten im Hintergrund rief vom Zugfenster aus einen anregenden Eindruck hervor. Ich wäre gern ausgestiegen, um durch die Berge zu wandern. Und wie verlief eure langsame Reise?"
"Wir haben unterwegs gelesen", sagte Pingping.
"Und mit Freunden übers Smartphone gechattet, was wir immer tun", ergänzte die ‚kleine Ma‘.
"Wir haben uns über dich unterhalten und überlegt, was wir mit dir in Xiamen so alles unternehmen können."

Da im Moment niemand ins Restaurant gehen wollte, zogen die Leute mit ihrem leichten Gepäck zur Bushaltestelle, um zuerst das Hotel aufzusuchen. Es lag weit außerhalb der Innenstadt in einer Gegend, welche unmittelbar ans Meer grenzte. Xiamens Insellage erhöhte den Reiz dieser pulsierenden Stadt, die architektonisch interessante Gebäude und Stadtviertel besaß, aber auch Strandparadiese. Nach einer Viertelstunde mussten die Leute den Bus wechseln; insgesamt brauchten sie gut vierzig Minuten, um das Hotel zu erreichen. Während der letzten Kilometer fuhren sie am Meer entlang. Die ‚kleine Ma‘ war sehr stolz darauf, dass sie ihr Hotel in Strandnähe übers Internet gefunden hatte.

"Robert", sagte sie, "du wirst begeistert sein. Das Hotel befindet sich wenige hundert Meter vom Wasser entfernt … Es ist bunt und poppig … Ach so, es ist ein Hostel, ein Hotel für junge Leute. Pingping und ich sind der Ansicht, du passt mit uns dahin. Es ist so etwas wie ein Musenhof", fuhr die ‚kleine Ma‘ mit sanfter Ironie in der Stimme und mit einem Lachen fort. "Dieser Musenhof wird zu einem romantischen Dichter bestimmt gut passen."
Die Dame ‚Wasserlinse‘ lachte ebenfalls.
"Bin sehr gespannt", erwiderte Robert. "Hoffentlich behalte ich einen kühlen Kopf. Ich weiß, zwei sehr kluge, frisch gebackene Bachelorinnen wollen meine Ariadne sein, mich in einen chinesischen Musenhof einführen und zum Dichten anregen … Das gefällt mir an China, hier hält mich jeder für einen Dichter, in Deutschland will man mir den Dichterjob streitig machen … In China sind Beamte Dichter, und Dichter sind Beamte; in Deutschland degenerieren wir zu halbverhungerten Narren in einer immer unkultivierter und brutaler werdenden Gesellschaft."
"Wie trostlos", sagte Pingping.
"Das muss sich ändern", ließ sich die ‚kleine Ma‘ vernehmen.
Der Bus fuhr mit hoher Geschwindigkeit auf der breiten Uferstraße entlang. Vom Fenster aus sah man Palmen und sich endlos hinziehende Sandstrände. Von Zeit zu Zeit tauchten gewaltige Banyan-Bäume auf; sie waren die Magier unter den Bäumen. Im Wasser erblickte man Felsbrocken, von Wind und Wasser geschliffen. Am Strand tauchten ab und an moderne Kunstwerke auf: Skulpturen, Plastiken, die angesichts der erhabenen Felsbrocken aber viel an Wirkung einbüßten. Die Natur war die überzeugendere Künstlerin … Nachdem die beiden Frauen und Robert ihre Station erreicht hatten, stiegen sie aus und durchschritten eine Vorortidylle mit kleinen Häusern im dörflichen Stil, mit lokalen märchenhaften Tempeln, Baustellen, Garküchen und mit einer auf einem Platz flugs aufgebauten Opernbühne. Als sie den Marktflecken hinter sich gelassen hatten, standen sie nach wenigen Minuten vor ihrem Hotel.

Die Herberge trug den schönen Namen Yi Mi Yang Guang (Ein Strauß aus Sonnenlicht). Wieder so ein romantischer Name! Dass China ein  romantisches Land war, wusste man im Westen nicht, man ahnte es nicht einmal. Und die Einrichtung des Hauses! Die ‚kleine Ma‘ und ‚Wasserlinse‘ hatten nicht zu viel versprochen, es war, wie der Deutsche anerkennend bemerkte, tatsächlich ein Hotel für crazy young people. Alles war jugendlich, die Geschäftsleitung und die Gäste … Der Stil war ‚kumulativ‘; im Foyer stand ein nachgemachtes Rokoko-Sofa neben imitierten Pop-Skulpturen, umgeben von fantasiereichen Wandmalereien. Kunststudenten und Kopisten waren am Werk und hatten die Arbeiten wie Originale arrangiert. Macht nichts, die Stimmung war jugendlich- wundertoll. Modezeitschriften und aktuelle Stadt(teil)zeitungen lagen aus. Robert suchte für dieses Arrangement und die gerade gemachten Erfahrungen nach einem Oberbegriff ‒ und der lautete CHINA-POP.

Jedes Zimmer war in anderen Farben gestaltet, die Kreativen hatten "die Macht ergriffen". Ein gewisser Stil war vorhanden. Neben China-Pop fiel Robert ein Begriff aus den frühen siebziger Jahren ein: psychedelisch! Ja, psychedelisch und surreal. Der eigenwillige Stil entsprang einer Logik des Traums … Man war auf dem Trip, ohne auf einem solchen zu sein … Die Herberge kam dem Gastpoeten wie ein jugendliches ‚Gesamtkunstwerk‘
vor. Marian musste an Tom Wolfes Schau heimwärts, Engel denken, aber nicht ans untergehende Leben, sondern ans Gegenteil davon ‒ an die strotzende Gesundheit der jungen Leute vor Ort … Beat und Pop waren in China verspätet hinzugekommen, aber sie waren es. Alles wurde nachgeholt, alles wurde überflügelt … Doktor Marian war überrascht, fühlte sich verjüngt und war froh, für einige Tage in diese heitere, junge Welt hineinzugeraten, in der alle Gäste wie auf geheime Verabredung so taten, als sei der Gastpoet genauso jung wie sie :))

Aus: Wulf Noll. Mit dem Drachen tanzen. Erzählungen aus China und Deutschland. Schiedlberg/Österreich: Bacopa Verlag, 2021, S. 33-35.


KONFUZIUS' GRAB IN QUFU

Die Leute schritten aus dem Garten und erreichten die ‚Straße des Trommelturms‘. Mit ihren vielen Verkaufsständen und Garküchen rief diese Straße eine heimische Atmosphäre hervor. Der Gastpoet und die Damen tranken grünen Tee und aßen einige Klebreisklößchen, die mit süßer Lotospaste gefüllt waren. Alsbald gelangten sie an einen Tempel, der Konfuzius‘ Lieblingsschüler Yan Hui gewidmet war. "Das ist es!" schoss es Robert durch den Kopf. "Studentinnen und Studenten sind für Lehrer immer wichtig. Lob und Dank gebührt ihnen; die Schüler halten ihre Lehrer nicht nur geistig am Leben, sie verbreiten auch deren Lehre. Das geschieht selbst dann, wenn sie wie Yan Hui viel zu früh sterben …"

Nachdem die Leute dem Schüler ihren Respekt erwiesen hatten, gingen sie in nördlicher Richtung weiter zum Totenwald der Familie Kong, in welchem sich das Grabmal des Meisters sowie der direkten Nachfahren und ihrer nächsten Familienmitglieder befand. Die Straße führte jetzt durch parkähnliches Gelände. Tore und kleine Tempel strahlten etwas Ruhiges und Archaisches aus … China war wieder altertümlich … Von Pferden gezogene Wagen warteten auf Besucher, um die Leute durch den Totenwald zu fahren und zu Konfuzius Grab zu bringen. Die bemalten, zweirädrigen Wagen ließen an magische Kisten mit vielen Symbolen denken. Den rundum geschlossenen Wagen haftete etwas Dunkles und Geheimnisvolles an, sie sahen wie mystische Gefährte aus, die ins Totenreich fuhren. Weniger geheimnisvoll könnte man sagen, es handelte sich um Pferde-Rikschas von recht archaischem Aussehen …

"Steigen wir ein", sagte Robert, "in diese Taxis, na ja, in diese Fuhrwerke ins Jenseits."
"Oh ja, einmal vom Diesseits ins Jenseits und wieder zurück", erwiderte Viktoria und rückte sich ihre weiße Malvenblüte im rotbraunen Haar zurecht.
"In solchen Wagen ist man bestimmt schon in der Ming- und frühen Qingzeit gereist, in höfisch geschmückten Pferdewagen und in hochrädrigen Ochsenkarren", setzte Robert das Gespräch fort.
"Ich mag moderne Autos", sagte Pingping, "aber solche alten Wagen mag ich auch."

Sie fuhren damit auf einem schönen, von ältesten Zypressen gesäumten Weg zum Grab des Konfuzius. Nachdem die Leute den ‚Seelenweg‘
hinter sich gelassen hatten, erreichten sie den Wald der Familie Kong, welcher dicht mit Kiefern, Zypressen und mit Farnen bewachsen war. Im Wald erhoben sich viele Gedenksteine und Stelen in unregelmäßigem Abstand und in unterschiedlicher Größe. Wie Geister ragten die grauen Steine aus dem Grün der Farne hervor. Der Anblick des Totenwaldes war unheimlicher und geheimnisvoller als der Anblick eines Friedhofs; auf einem Friedhof lagen die Toten geordnet in den Gräbern oder waren, wie in Asien, zumeist in Urnen beigesetzt. Hier war alles anders; hier galt die Waldbestattung. Mal saß ein Vogel auf einem Gedenkstein, mal raschelte es verdächtig im Unterholz.

Den letzten Teil des Weges mussten die Leute zu Fuß zurücklegen. Jetzt wollten Pingping und Shanshan vom abgeklärten und coolen Gastpoeten beschützt werden, vor, vor … Fledermäusen und vor Waldungeheuern … Sie schritten über eine Brücke mit einem Flüsschen und gerieten, kurz vor dem Grab, auf einen von Tier- und Wächterfiguren umstandenen Weg, der unmittelbar zur Grabstätte des Konfuzius führte. Verschiedene Kaiser hatten kleine Pavillons errichten lassen, auch sie waren auf diesem Weg zum Grab gepilgert … Ach, Konfuzius! Sein Horizont war klarer, weiter und luzider als der Horizont der Kaiser… Wie alles Große war das Grab des alten Meisters von betonter Schlichtheit. Es bestand aus einem mit Gras bewachsenen Erdhügel, der von einer kleinen roten Mauer umfasst war. Auf einem Gedenkstein konnte man in kalligrafischen Schriftzeichen die Ehrentitel des Weisen lesen: GROSSER VOLLENDER, KULTURVERBREITENDER KÖNIG, HÖCHSTER HEILIGER …

Wie immer stritten sich die Gelehrten darüber, ob der Meister an dieser Stelle seine letzte Ruhe gefunden hatte oder nicht, das war letztendlich egal, vom Körper des Meisters war ohnehin nichts mehr übrig, nur von seinem Geist. Die Namen der Kaiser und die Namen von Politikern verblassen schnell, doch Kongzis Name hat in den Ohren fast aller Chinesen einen unverändert guten und erhabenen Klang. Vor dem Grabmal war – wie sonst im Tempel – eine gepolsterte Matte zum Niederknien ausgelegt worden. Welche Ermunterung zum Kotau, doch auch welche Aufmunterung zur Dekonstruktion… Shanshan und Pingping waren überrascht, als sie Robert mit ironischem Blick auf der Matte beim Niederknien erblickten. "Der Gastpoet", dachten sie, "der dekonstruiert sich ja selbst!"

Aus: Wulf Noll. Drachenrausch. Flanieren in China. Schiedlberg/Österreich: Bacopa Verlag, 2019, S. 49-51.


ÖSTLICHES ROT - LANZHOU

Östliches Rot – Platz im Zentrum, Zentrum der Flaneure, besser der Flaneurinnen, die ihre Stiefel und ihre Pumps ausführten. Überall war brodelndes Leben, Blumengirlanden, Märkte zum Frühlingsfest. Sozialismus und Kapitalismus, wo war der Unterschied? Gab es überhaupt einen? Welchen? Mit diesen Gedanken spazierte der Flaneur mit seiner ‚Schönen Wolke‘ und mit ihrer Mutter, einer Bankerin, durch die Stadt. Die Bankerin brachte ihm das Taxifahren bei, er ihr das Flanieren. Konnte man einer Bankerin das Flanieren beibringen? Vermutlich nicht, sie ging viel zu schnell, telefonierte beim Flanieren, setzte das Handy nicht ab.

Sie liefen parallel zum Gelben Fluss, Robert roch das Wasser, spürte den frischen Wind. Ah! Der Gelbe Fluss, ein Mythos! Plötzlich war dem Deutschen der Stadtbummel nicht mehr so wichtig, er wollte so schnell wie möglich an den Fluss. ‚Schöne Wolken‘ wollte das auch, und die beschäftigte Bankerin willigte ein. Am Flussufer würde sie noch ungestörter telefonieren können. Bald standen sie am Gelben Fluss, der im Februar Niedrigwasser führte und überhaupt nicht gelb, sondern blau oder blaugrün war, weil sich der azurblaue Himmel in ihm spiegelte.

Es war ein schöner, ein erhabener Anblick, wie sich dieser Fluss durch die große Stadt schlängelte und wand, links befanden sich Berge und Berghügel, rechts die Hochhäuser der Stadt und die Gebirgskette im Hintergrund. Aufgrund des Niedrigwassers und des steinigen Flussbettes konnte Robert ins Flussbett hineingehen. Da stand er nun in seinem langen, schwarzen Flaneurmantel, diesem guten Stück, haha, wie Byron am Styx und beugte sich zum Wasser hinab.

"Pass auf", rief ‚Schöne Wolken‘, "was machst du denn da?"

Robert Marian ließ sich nicht stören, er vollzog seinen Ritus. Seinen Ritus? Der bestand darin, sich mit dem Wasser der großen, fast mythischen Flüsse selbst zu taufen. Dreimal schöpfte er mit der hohlen Hand etwas Wasser und ließ es auf seinen Kopf träufeln. Wenwen lachte, aber sie trug ihre Fotokamera bei sich und machte Aufnahmen, während die Mutter ununterbrochen mit wichtigen Bankern telefonierte.

"Was bedeutet das?", wollte ‚Schöne Wolken‘ wissen.
"Das ist ein Sakrileg. Ich taufe mich selbst. Das bedeutet, ich bin mit allen Wassern der Welt gewaschen."
"Dann möchte ich das auch tun."
"Ja klar, mach das nur! Dann gehören wir zur selben Gesellschaft der selbstbestimmten und emanzipierten Menschen."

"Und zu den mythischen Personen", fuhr Robert fort. "Aber ‚Schöne Wolken‘ gehören ohnehin dazu."
"Es gibt nur eine ‚Schöne Wolke‘", sagte Wenwen.
"Sicher! Aber du bist eine im Plural."
 
Am Flussufer führte ein Pfad entlang, aber der war auf Dauer für die Frauen zu unbequem. Der Flaneur ging mit den Damen wieder zur Uferpromenade zurück. Schließlich kamen sie zu einer nostalgischen, deutsch anmutenden Brücke, die genauso gut in Köln hätte stehen können. Und wirklich war die "Eiserne Brücke" im Jahr 1907 von einem deutschen Architekten erbaut worden. Die zum Frühlingsfest mit Lampions und Laternen geschmückte Brücke führte auf die andere Flussseite und auf den Weißen-Pagoden-Berg zu. Den wollten die Leute besteigen, er war ihr nächstes Ziel. Gemächlichen Schritts, immer wieder den Ausblick genießend, spazierten die Leute auf der langen Brücke über den Gelben Fluss. Am Hang schließlich angelangt, mussten sie auf steilen Wegen arg klettern. Robert Marian dachte daran, dass es genial wäre, sich in einer Sänfte hinauftragen zu lassen.

Auf der Tempelterrasse – direkt neben der Pagode – waren Liegestühle aufgestellt. "Robert", fragte ‚Schöne Wolken’, "willst du jetzt liegen?" "Warum nicht?", erwiderte er, "liegen ist ruhiger als gehen. Wir können die letzten Sonnenstrahlen genießen und die gelegentlich vorüberziehenden Wolken beim Flanieren betrachten."

‚Schöne Wolken‘ lag neben Robert, Mutter durchstöberte den Tempelladen nach Andenken. Robert nannte die Studentin in einem Anfall von Übermut Rotkäppchen, und ‚Schöne Wolken‘ nannte ihn Wolf.

"Wolf", sagte sie, "sieh nur die Drachenköpfe in den Pagodennischen! Sind die nicht schön?"
"Drachenköpfe, die mit jungen Damen kommunizieren, sind immer sehr schön."

Aus: Wulf Noll. Schöne Wolken treffen. Eine Reisenovelle aus China. Eutin u. Plön: Verlag Reisebuch.de, 2014, S. 352-355.


Geboren am 01. September 1944 in Kassel. Noll studierte Germanistik (Literaturwissenschaft, Linguistik) und Philosophie an der FU Berlin (M.A.) und an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (Dr. phil.). Berufliche Tätigkeiten u.a. als Journalist, Lektor für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Tsukuba (1986-1990) und an der Universität Okayama (1993-1997) in Japan, 1999-2009 Kursleiter für Integration in Düsseldorf,  2009-2011 Lektor für deutsche Sprache und Kultur an der Universität Ningbo / China in der Nähe Shanghais. Freier Schriftsteller; 2017 Poetikdozentur (Poet in Residence) an der Ocean University of China in Qingdao. Ausgedehnte Reisen durch Indien, Japan, China und durch zahlreiche südostasiatische Länder. Verheiratet seit 1990 in zweiter Ehe mit Mutsumi Aoki, einer bildenden Künstlerin (Malerei, Objekte, Skulpturen); zwei Kinder aus erster Ehe. Noll ist Mitglied im deutschen Schriftstellerverband (seit 1984) und im Internationalen PEN-Zentrum Deutschland (seit 2009). Teilnahme am Japan-EU-Jahr der Begegnung 2005 und an Deutschland in Japan 2005/2006.
Zahlreiche Lesungen im In- und im Ausland. Im Inland auf den VS-Literaturtagen in NRW, Lesungen in Schulen und in Instituten, in Düsseldorf: Heinrich-Heine-Institut, Gerhart-Hauptmann-Haus, Konfuzius-Institut, in Kassel: Kunsttempel (Werkstatt), Literaturbüro, Hermann-Schafft-Haus, in Freiburg: Schloss Ebnet, in Köln: Museum für Ostasiatische Kunst, etc.; im Ausland: Goethe-Institut Tokyo, Goethe-Institut Osaka-Kyoto, Goethe-Institut Shanghai sowie an universitären Einrichtungen in Österreich, Japan und in China.

2010: Eyes on Zhejiang: Ehrenpreis der Kulturabteilung der Provinzregierung Zhejiang und der Mediengruppe Zhejiang Daily, Hangzhou/VR China
2006 u. 2002: Förderung Kunststiftung NRW
2004, 1999 u. 1993: Projektförderung durch den Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen
1982: Arbeitsstipendium der Stadt Düsseldorf
1978: Arbeitsstipendium des Landes Berlin

Mit dem Drachen tanzen. Erzählungen aus China und Deutschland. Bacopa: Schiedlberg/Österreich 2021.
Drachenrausch. Flanieren in China. Bacopa: Schiedlberg/Österreich 2019.
Zum Glück gab es Beat. Ronny Blumensteins Erzählungen aus den späten sechziger Jahren. Edition Virgines: Düsseldorf 2018.
Schöne Wolken treffen - eine Reisenovelle aus China. Reisebuch.de: Eutin u. Plön 2014.
Im Jahr des Pegasus. Asiatische Impressionen. Hrsg. von Michael Serrer. Ehrenwort Bd. 10. Edition Virgines: Düsseldorf 2014.
Den zuckenden Kugelfisch überlebt. Japanische Lesereise. Edition Virgines: Düsseldorf 2007.
Reise nach Indien. Dann, gute Nacht, Madame! Edition Virgines: Düsseldorf 2006.
Crazy in Japan. Flanieren in zwei Welten. Firwitz Verlag: Köln 2005.
Kennst du nur das Zauberwort. Kurgeschichte. Edition XIM Virgines: Düsselddorf 2004.
Momotarostraße. Erzählungen aus Japan. (dt., japan., ung.). editio plurilingua: Budapest 2003.
Woanders Pachinko! Ein japanischer Reiseroman. Bollmann: Bensheim 1994.

Straße der Konkubinen und andere "chinesische" Liebesgedichte. Reihe Phönixfeder 54. Ostasien: Gossenberg 2020.
Freundliche Grüße aus dem Yenseits. Gedichte aus Japan. Sassafras: Krefeld 1999.
Des Rheinturms feine Spitze sticht gen Himmel. Neue deutsche Lyrik. Athanor: München 1986.
Ein bißchen Macht für die Nacht. Neue deutsche Lyrik. Zusammen mit Dieter Fohr. Positiv Verlag: Mainz 1984/1985.
Mephisto-Quelle .... politische Lyrik ......... . Positiv Verlag: Mainz 1985.
Subkultur-Sublimpoeme (Gedichte). Freie Presse: Essen 1978.

Neues aus der Literaturstadt Düsseldorf: Wulf Noll, China-Autor und Asien-Liebhaber. Literaturmagazin von StreamD. NRWision: Düsseldorf 22.03.2021.
Waren die 68er romantisch? Neugier genügt - Redezeit. WDR 5: Köln 29.08.2018.
KÖnigunde - chinesisch. Antenne Düsseldorf (104,2 MHz), Radio Kö: 13.03.2014.
Armes Japan? Die Schattenseiten des Wirtschaftsgiganten. Wulf Noll über neue Japanliteratur. WDR III (Hörfunk): Köln 13.11.1991.
"Subkultur" und "Neue Literatur". Über R.D. Brinkmann, N. Born und J. Theobaldy. Mit einem lyrischen Anhang. Studio für Neue Literatur, Radio Bremen: 1977.
Beschreibung eines Zimmers (Wolff-Rezension zu J. Bobrowski). SFB I: 1972.
Subkulturell (Zehn Gedichte). SFB I: 1972.
Beitrag in W. Meycke: Grüße an Onkel Franz. Feature. Rias II: 1971.

Künstlerporträt: Wulf Noll - Schriftsteller Teil 2. NRWision: Münster 30.10.2018.
Künstlerporträt: Wulf Noll - Schriftsteller Teil 1. NRWision: Münster 27.09.2018.
Blick auf den Ganges, Bad im Ganges. Fernsehlesung. ACCS, channel 9: Tsukuba/Japan 09.06.1990.
Androgyn. Fernsehlesung. ACCS, channel 9: Tsukuba/Japan 17.12.1988.

Lyrikliebe/Liebe zur Lyrik: Wulf Noll und Ingo Munz lesen. Auf: YouTube, 18.12.2020.
Lesung aus Drachenrausch. Bacopa Verlag. Auf: YouTube, 18.08.2020.
100 Thousand Poets For Future: Wulf Noll und Ingo Munz lesen. Auf: YouTube, 28.05.2020.
PEN-Mitglieder lesen in Zeiten der Pandemie: Wulf Noll. Auf: Vimeo, 14.05.2020.
Interview zum Drachenrausch. Deutsch-Chinesischer Buchclub. Auf: YouTube, 26.11.2019.

Wortzauber und Parlando im Salon. Literaturstadt Düsseldorf. Presseartikel. Nyland-Stiftung Köln, Nyland Dokumente Bd. 13. Hrsg. von Walter Gödden. Edition Virgines: Düsseldorf 2014.
Sloterdijk auf der 'Bühne'. Eine philosophische Untersuchung. Blaue Eule: Essen 1993.

Zahlreiche Beiträge in Anthologien, in Literaturzeitschriften (Litfass, Schreibheft, L'80, die horen, neues rheinland, Literatur am Niederrhein) sowie kritische und wissenschaftliche Beiträge in Fachperiodika auch im Ausland.
Seit 2014 zahlreiche literarische, essayistische und philosophische Beiträge in minima sinica. Zeitschrift zum chinesischen Geist.

Auskunft Autor; Literatur von und über Wulf Noll im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek; Wikipedia-Seite Wulf Noll; PEN - Lexikon der Autorinnen und der Autoren 2020/2021; Wulf Noll bei Literaturführer Nordhessen; Academic (Wiki) Wulf Noll

Aktualisiert 06.09.2021