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Markus Orths


LITon.NRW Autor*innen
Markus Orths
1969
Viersen
Karlsruhe
Viersen
Niederrhein, Rheinschiene, Rheinland komplett
Prosa, Funk, Film, Bühne/Drama, Satire
0721-697725

Arbeitsproben (4)

 

KRAKENKAMPF

Den Krakenkampf glaubt man schon eher. Zumindest nickt man und widerspricht nicht. Dabei ist die Geschichte vom Krakenkampf genauso unwahrscheinlich wie die von der Geburt: Die aber nimmt mir keiner ab. Schon nach den ersten Sätzen schüttelt man den Kopf und sagt Jaja, red du nur. Das ärgert mich, denn die Geschichte von der Geburt liegt mir am Herzen, sie ist verdammt gut recherchiert, wissenschaftlich abgesichert, ich kenne die Namen der Medikamente und möglichen Eingriffe, die Forscher und Firmen, die das Projekt betreuen, ich habe Worte wie Transplantationsmuschel und Uteralimmunität auswendig gelernt, und bei der Wahl des Schauplatzes habe ich sogar Zugeständnisse gemacht: eine James-Bond-Insel, klein, mit weißem Strand.
Ich muss immer dann erzählen, wenn ich mit jemandem, der mich nicht gut kennt, im Schwimmbad bin. Unter der Dusche heißt es dann Mensch, was haste denn da gemacht, und ich sage Erzähl ich dir später, oder, ganz klassisch, Ist ne lange Geschichte. Erst wenn wir im Bistro sitzen, mit Wasserpfropfen in den Ohrmuscheln, und ein Brötchen gegen den Schwimmhunger essen, ist mein Zuhörer in der richtigen Stimmung. Zwei Stunden sind vergangen, er hat sich an den Anblick meiner dicken Narbe gewöhnt, er hat wahrscheinlich selber schon fantasiert, was sich da abgespielt haben könnte, seine Einbildungskraft hat einen leichten Anschub bekommen, er ist vorbereitet für meine Geschichte, und ich beginne zu erzählen.
Das Experiment hat drei Jahre gedauert. Nichts davon ist in dieser Zeit an die Öffentlichkeit gedrungen. Strengste Geheimhaltungsstufe. Deshalb auch die Insel. Warum man mich für das Experiment ausgewählt hat? Nun ja, ich war natürlich Mitarbeiter der Forschungsgruppe, die damals an dem Projekt arbeitete, und von allen Kandidaten nicht nur der körperlich Fitteste, sondern auch der einzige Mann, der sich vorstellen konnte, selber ein Kind auszutragen. Wenn ich vom Kind zu reden beginne, winken meine Zuhörer ab. Ich bemühe mich zwar weiterhin nach Kräften, aber die Geschichte hat schon leckgeschlagen. Natürlich, sage ich dann, das ist rein biologisch kein Problem mehr, es bedarf einer hormonellen Umstellung, gewiss, aber du siehst ja, ich bin sowieso eher der androgyne Typ, und das nicht erst seit der Geburt meiner Tochter. Man fragt mich, ob ich allen Ernstes behaupten wolle, dass ich tatsächlich ein Kind bekommen hätte. Klar, sage ich dann, aber lass mich doch der Reihe nach... Weiter komme ich meist nie mit der Geschichte von der Geburt. Jetzt sag doch mal ehrlich, heißt es dann.
Als ob das so einfach wäre.
Ehrlich, ich habe nicht gezählt, wie oft ich das, was damals wirklich passiert ist – diesen verdammten Unfall – beschrieben habe, irgendwann aber fiel mir auf, dass ich nicht mehr das Geschehene selbst wiedergab, sondern nur noch hohle Worte. Es waren die Worte, die ich einst, bei der allerersten Schilderung, gewählt hatte. Als hätten sie sich seitdem in meinen Mund genistet, flogen sie wie pawlowsche Vögel bei einem bestimmten Fragereiz heraus und zwitscherten so lange, bis mein Gegenüber nickte und das Thema wechselte. Und eines Tages fragte ich mich, ob das, was ich erzählte, überhaupt noch der Wahrheit entsprach. Ich versuchte mich deutlich und unmittelbar an den Unfall zu erinnern, mich zurückzuversetzen, mich ganz und gar und neu wieder einzulassen auf die Situation in ihrer haarkleinen Abfolge. Ich erschrak: Die wirkliche Erinnerung an das Geschehen war mir verbaut. Mit jedem bloß wiedergekäuten Wort über die damaligen Vorfälle hatte ich einen neuen Stein in die Mauer gesetzt. Einreißen, dachte ich, sofort einreißen. Nur wie? Durch Schweigen, dachte ich, durch eine neue, stille, innere Annäherung. Und so verbot ich mir, weiter über den Unfall zu sprechen.
Indes: Die Fragen hörten nicht auf.
Ich erfand nicht gleich den Krakenkampf, auch nicht die Geburtsgeschichte, nein, meine Geschichten begannen ganz harmlos und glaubwürdig, zunächst mit einer Operation, und man nickte nur bedauernd, dann kam die Messerstecherei, das war schon mehr, und die Zuhörer wollten Einzelheiten wissen. Als nächstes versuchte ich es mit einem Thrillermotiv, die Hauptperson nannte ich den Schlitzer, und mein Glück mit dem Schlitzer sei unermesslich gewesen, sagte ich, seine übrigen Opfer wären allesamt verblutet. Bei dieser Geschichte musste ich mich bereits bemühen, mir keine zweifelnden Blicke einzuhandeln, und wahrscheinlich haben einige, denen ich sie erzählte, nur nach außen hin genickt, innerlich aber gedacht: So ein Schwätzer.
Je nach Laune erfand ich nun die irrsten Zusammenhänge. Eine Gartenschere, die ich mir beim Rasenmähen aus Versehen in den Bauch rammte und selber wieder herauszog, ehe ich blutüberströmt der Nachbarin auf den Gartenkaffeetisch klappte – eine missglückte Versenkungsübung mit indischen Fakiren (Kohlen oder Scherben) – Ratten, die mich nachts annagten – eine Frau, die mir mit scharfen Fingernägeln den Leib durchtrennte – Schwefelsäure, die man über mich kippte (mal als Folter, mal aus Rache).
Mit der Zeit wurde ich süchtig nach diesen Geschichten. Kaum hatte ich jemanden kennengelernt, nahm ich ihn schon mit zum Baggersee, um mir das Hemd vom Leib zu streifen. Die Erregung, wenn mich jemand, den ich nicht kannte, auszog, im Bett, wandelte sich mehr und mehr in Vorfreude darüber, nach oder vor dem Akt erzählen zu können. Bei Feten versuchte ich unauffällig die Gespräche auf Abenteuer, Gefahr und Männlichkeit zu lenken, um mein Hemd aus der Hose ziehen und den Gesprächspartnern ohne falschen Stolz meine Narbe zeigen zu können. Ihr glaubt nicht, wie das passiert ist, sage ich dann. Man schart sich um mich, und ich lege los.
Beliebt waren natürlich Haiattacken. In meinen Ferien belegte ich Tauchkurse, um meine Geschichten mit realistischen Beschreibungen würzen zu können. Immer mehr Bücher von Tiefseeforschern sammelten sich in meinem Leseschrank. Ich spielte den Fachkundigen, streute meinen Zuhörern hier und da sachliche Bemerkungen hin oder stellte ihnen während des Erzählens Fragen, so dass sie selber voll und ganz Teil der Welt wurden, von der ich gerade erzählte. So fragte ich einmal bei der Schilderung eines Haiangriffs, ob Haie eigentlich die Taucheranzüge mitfressen würden. Man schaute mich an. Ja, fragte ich, was geschieht denn eigentlich mit den Taucheranzügen, wenn ein Taucher gefressen wird? Der Hai pellt sein Opfer wohl kaum sorgsam aus der Schale, ehe er es frisst. Also: Werden die Taucheranzüge wieder ausgeschieden? Oder ausgespuckt? Oder vergammeln sie im Magen? Ich stellte fest: Je mehr meine Zuhörer grübelten, um so weniger merkten sie, wie sehr sie mir schon im Netz zappelten.
Von den Haiangriffen war es nur noch ein Schritt zum Krakenkampf. Eine Krake? fragte man entsetzt. Ich blieb ruhig und verbesserte: Ein Krake. Es heißt der Krake.
Es ging um einen Riesenkraken, eins von den Exemplaren, die noch nie gefilmt worden waren, weil sie tief im Bauch des Meeres lebten, für Menschen unerreichbar. Mein Krake war rot, und jeder seiner Fangarme etwa dreimal so lang wie ich. Warum er aus den Untiefen so hoch hinauf getaucht war, erklärte ich mit einem Versagen seines Echolotleitsystems. Wenn jemand sagte, er glaube kaum, dass ein Architheutis dux über ein Echolotleitsystem verfüge, war mir klar, dass ich aufpassen musste, doch meistens widersprach niemand, und so wusste ich, dass ich es mit Ahnungslosen zu tun hatte.
Ich sah zunächst nur einen kleinen Punkt, der sich unruhig wippend aus dem Dunkel des Wassers unter mir näherte. Ich war neugierig, tauchte weiter hinab, meine Lampe war schwach, und plötzlich erkannte ich, was es war, das mir da entgegenschwappte, von tief unten hinauf: die von der Strömung gewellten Fangarme eines Riesenkalmars, samt Fresstentakeln. Die Lampe glitt mir aus der Hand, ich drehte mich und stieß heftig mit den Flossen ins Wasser, spürte im selben Augenblick aber, wie der Krake eine Armspitze um meinen Knöchel wand. Gewaltlos, fast sanft, als wolle er, ganz freundlich, mich zurückhalten, um mir noch etwas zu sagen, ehe ich fortging: Wart noch kurz, mein Lieber. Die erste Reaktion war panisches Armrudern und Um-mich-Schlagen, Zerren und Treten. Luftblasen zerplatzten vor meiner Taucherbrille. Aber der Krake hatte alle Zeit der Welt. Er schien sich sicher zu sein, dass jemand, an den er einmal seine Saugnäpfe gepresst hatte, auch ihm gehören würde, mochte er zappeln so viel er wollte. Erst als die Heftigkeit meiner Befreiungsversuche abebbte, merkte ich, wie der Krake begann, mich mehr und mehr zu sich hinabzuziehen, wisst ihr, sage ich, was euch im Innern der Arme erwartet, das Schweigen um mich her wird drückend, der Papageienschnabel, sagt ein Zuhörer, richtig, sage ich, der Papageienschnabel, doch ungleich größer als der eines Papageis und in der Lage, die Haut eines Wals ohne Mühe zu durchtrennen, scharf, sage ich, scharf. Mein Messer, fuhr es mir durch den Kopf, ich hatte ein Messer im Gürtel, ein Unidive Tauchermesser, mit Titan beschichtet, ich zog es raus, verschluckte mich beinah am Sauerstoff vor Aufregung, packte mir den glitschig dicken Arm, der sich schon um meine Oberschenkel knäuelte, begann zu sägen wie verrückt, dachte noch im ersten Moment, das Ding säbelst du durch, mit einem Schnitt, doch merkte ich rasch, wie zäh und holzig es war. Andere Fangarme tasteten mich ab, suchten nach griffigen Flächen für ihre Näpfe, ich sägte weiter, als plötzlich ein ungeheurer Schuss Tinte mir schwarz vor die Augen klatschte, alles war dunkel um mich her, ich konnte nicht mehr erkennen, wohinein mein Messer sich fraß, jetzt nur nicht abrutschen, dachte ich, nur nicht dir selbst in die Schenkel schneiden. Als ich den ersten Arm durchtrennt hatte, waren mir schon drei weitere um Bauch und Brust gewickelt, ich merkte, wie sehr er mich in seinen Fängen, wie dicht er mich bereits zu sich herangezogen hatte, und mit knappem Ruck hing ich ihm plötzlich vorm Maul, mein Messer fiel, ich gab mich auf, es war vorbei, ich spürte seinen scharfen Schnabel, der mir in die Eingeweide drang, ein Riss hinauf, schräg, quer durch den Nabel, als wolle er zunächst die Innereien fressen, und wie aus dem Nichts, inmitten meines Todesgrußes, tauchte plötzlich ein gigantischer Schatten auf, hinter dem Kraken, die eckige Stirn eines Pottwals, die sich über uns aufbaute, und von unten bohrte er ohne Knacken sein flaches, zahnbesetztes Lanzenmaul in den fetten Leib des Kraken, ich aber wurde in einer teuflischen Welle aus Tinte und Blut aufwärts geschleudert und sah, wie der Krake seine Fänge nach hinten stülpte, um zu verhindern, wozu es schon zu spät war. Dann packte man mich bei den Schultern, meine Eingeweide hingen halb im Salzwasser, man zog mich auf das Beiboot, schrie wie von Sinnen über mich weg, ich aber sank auf einen Meeresgrund von Schlaf, und als ich erwachte, man hatte die Narkosedosis genau berechnet, hielt man mir meine Tochter vor den zugenähten Bauch, sie wimmerte leise und atmete schon seit einigen Minuten.


DER GRÄBER

Ihr letztes Ausatmen entlädt sich mit trockenem Pfeifen und riecht nach altem Fahrradschlauch. Ihr Blick läuft leer: geradeaus zur Decke und hindurch. Ich nehme ihr die Augen vom Gesicht.

Ich stehe auf, langsam, verlasse das Wohnzimmer und trete hinaus in den Garten. Der Schuppen ist mit Dreck und Staub bezogen. Mein alter Spaten hat Rost angesetzt. Ich hocke mich auf den Schemel, nehme, mit zittrigen Fingern, die Gartenschuhe und schüttle sie aus. Die Schuhe sind hart und trocken, das Leder ist klobig geworden mit der Zeit. Ich stülpe die Schuhe über die Socken.
Die Stelle, an der ich grabe, ist dunkler als die übrige Fläche des Ackerbodens. Ich stoße meinen Spaten hinein, hart ist der Dreck, klumpig, halb gefroren. Es fällt mir schwer, den Spaten herauszuziehen und die Erde zur Seite zu kippen. Ich stehe still und stütze mich auf den Spaten, frostiger Atem vor mir.
Nur eine Schicht, denke ich, das muss genügen, mehr ist nicht drin: mein Rücken, meine Zitterhände, meine abgeschlafften Muskeln. Nach einer halben Stunde ist das flache Loch lang genug. Ich steche den Spaten in die aufgehäufte Erde neben mir. Meine Brust fiept wie ein Blasebalg. Ich lege mich ins Loch. Zunächst sind die Augen geschlossen. Der Rücken schwimmt in Kälte.

Das erste Mal habe ich gegraben, als ich achtzehn war und kurz vor dem Abitur stand. Um genau zu sein: es war der Tag vor der mündlichen Prüfung. Ich spreche vom Graben eines Loches und nicht vom Umpflügen des Gartens im Herbst, zu dem ich schon viel früher (wohl mit dreizehn) herangezogen worden bin, weil der Garten sehr groß war. Über dieses Umgraben im Herbst will ich nur so viel sagen, dass ich es gern getan habe, dass ich, wenn ich aus der Schule kam, sofort nach dem Essen meine alten Arbeitsklamotten überwarf und Stunde um Stunde grub, immer wieder mit der Schubkarre vom Misthaufen frischen Dung herbeiholte, den ich untermischte, bis am Abend eine ganze Parzelle des Gartens statt hart, verkrustet und mit Unkraut bewachsen, nunmehr offen, frisch und atmend da lag, als hätte ich die Erde aus einer langen, bitteren Kerkerhaft befreit. Wenn dann mein Vater nach Hause kam, schritt er die umgegrabene Fläche ab, mit prüfendem Blick, bückte sich manchmal, um einen Stein oder ein Fitzelchen Unkraut aus dem Dreck zu ziehen und auf den Gartenweg zu werfen, sagte Naja, hier ist noch ein kleines Loch, aber alles in allem zeigte er sich zufrieden und nickte anerkennend.
Als ich also in der Nacht vor der mündlichen Prüfung im Bett lag und nicht schlafen konnte, stand ich auf, zog mich an und ging in den Garten. Ich wollte eigentlich nur ein wenig frische Luft schnappen, mich vom Sauerstoff müde machen lassen, doch es war eine überaus helle Nacht, und als ich ein kleines, freies Stück Boden sah – mein Vater hatte tags zuvor die ersten Kartoffeln geerntet – befiel mich plötzlich dieser Drang. Ich zog im Schuppen meine Stiefel an, nahm den Spaten und begann zu graben. Ich grub ein Loch. Ich maß dem, was ich tat, keine Bedeutung bei, sondern folgte einfach blind dieser Lust, die mich ergriffen hatte. Es war die Lust, wie wild zu graben, und da es nur ein kleines Stückchen war, welches mir zur Verfügung stand, grub ich nicht in die Breite, sondern in die Tiefe. Als das längliche Loch fast ein Meter tief war, und ich in Schweiß stehend meinen Spaten wegstach, zögerte ich nicht, sondern legte mich hinein. Es war zu klein, ich musste meine Beine anwinkeln.
Ich lag dort und schaute hinaus.
Der Mond war von meiner Lage aus nicht zu sehen, nur Wolken, die durch die helle Nacht zogen. Die Kühle der Erde war unangenehm. Ich blieb nicht lange liegen, aber lange genug, um ruhig zu werden, meine Atemzüge zu zählen und einen klaren Kopf zu bekommen. Das Zuschaufeln des Loches ging mir leicht und gleichmäßig, fast rhythmisch von der Hand. Ich nahm eine warme Dusche, legte mich ins Bett, es war fünf Uhr morgens, und ich schlief sofort ein.

Ich grub weiter. Ich grub vor den Prüfungen im Studium und vor meinem Vorstellungsgespräch und als unsere Firma kurz vorm Bankrott stand. Ich grub auch, als mein Vater starb und als meine Frau nach der Geburt unserer Tochter noch lange im Krankenhaus bleiben musste. Ich grub immer an derselben Stelle im Garten. Mal grub ich mit Bedacht und langsam und sorgfältig, mal wild und wie im Rausch. Mal grub ich lange und ausdauernd und bis ich vor Erschöpfung beinah umkippte, mal kurz und schnell und ohne dass sich Schweiß auf meinem Körper zeigte. Mal grub ich so tief, dass der Boden seine braunschwarze Farbe verlor und sandhell zu werden begann, mal nur eine flache Grube, auf deren Ränder ich meine Hände legen konnte. Mal war die Erde erhitzt und trocken und staubte auf, wenn ich grub, mal war sie feucht und klebte in Klumpen am Spaten, so dass ich innehalten und den Matsch mit dem Fuß abschaben musste. Und wenn ich nach dem Graben im Loch lag, öffneten sich alle Engen in mir, ich atmete tief ein und versuchte dem Geruch der Erde nachzuschmecken, ich lauschte auf das grauviolette Kringeln der Regenwürmer, rieb mit den Handflächen über den dunklen Innenraum der Grube und sah in den kleinen, eckigen Ausschnitt Welt, den das Loch mir bot.

Einmal, ich war 60 damals, war meine Tochter zu Besuch – sie hatte ihren Mann mitgebracht – wir saßen lange und redeten, bis ich eine neue Flasche Wasser holen wollte, doch im Flur merkte, dass ich vergessen hatte, die leere Flasche mitzunehmen, sodass ich umkehrte und auf der Wohnzimmerschwelle stand, als meine Tochter, die mich nicht sah, diesen Satz sagte, diesen einen Satz, zu ihrem Mann, mit Stöhnen in der Stimme: Komm, lass uns bald gehen, ich kann sein Gerede nicht länger ertragen. Da drehte sie sich um und sah mich und erschrak. Sie wollte sich entschuldigen, mir klar machen, dass sie es nicht so gemeint hätte, doch ich sagte nur: Ihr wolltet doch gehen. Und schickte sie hinaus.
Dann nahm ich meine Taschenlampe und begann zu graben. Es war stockdunkel, und ich sah nicht wirklich, was ich tat und wohinein ich meinen Spaten stach, das Licht der Lampe verzerrte nur, erhellte kaum. Die Erde war in dieser Nacht seltsam fremd für mich. Ich sah sie nicht, ich roch sie nicht, ich hörte sie nur: Der schlitzende Stich hinein, wie ein scharfer Riss von Papier; das pfropfende Hochheben der Erde; und das dumpfe Fallen des Aushubs, wie ein ganz leichter Schlag auf ein Bongo. Als ich schließlich unten lag, keuchend und mit Tropfen der Wut im Gesicht, brauchte ich lange, um ruhig zu werden, brauchte ich sehr sehr lange, ehe die Erde mir die Schwere nahm und ich aufstehen und den Dreck an seinen alten Platz zurückschaufeln konnte.

Ich lasse das Loch offen heute, werfe es nicht wieder zu, weil mir kalt ist. Und ich bin müde. Ich nehme ein Bad. Danach, im Bademantel, betrete ich das Zimmer, in dem meine Frau liegt. Ich müsste eigentlich jemanden anrufen. Aber man würde sie abholen, und dann wäre sie fort. Warum? Die dümmste Frage, die man stellen kann, wenn ein Mensch einen Menschen verlässt, ist: Warum?

Als meine Frau mich zum ersten Mal verließ, war ich fünfundzwanzig, und ich grub mit heftiger Traurigkeit. Ich grub mit Tränen, ich grub mit Brustbeben, mit kurzen, heftigen Pausen, in denen mein Körper nichts war als ein geschüttelter Baum. Ich grub mit Nebelnetzen vor den Augen. Ich grub in Raserei. Ich stach den Spaten soweit hinein wie es ging, oder haute mit der Rückseite des Eisens die Erde platt. Ich bückte mich und grub mit den Händen, bohrte die Finger in das saftige, nasse, kühle Schwarz, sammelte das Innerste des Drecks in meinen Fingernägeln, die sich füllten und schwarz und schwärzer wurden.
Es gab keinen Grund für die Trennung, doch wie gesagt, warum ist die dümmste aller Fragen, sie ging einfach, und als ich sie das letzte Mal sah, war eine Glasscheibe zwischen uns, am Flughafen. Ich konnte nicht hören, was sie sagte, ich konnte ihr Haar nicht riechen, ich konnte nur sehen, wie sie den Mund bewegte, ich hätte gern helle, offene i-Laute gesehen, vermischt mit der Gewissheit eines Wiedersehns, aber ich sah nur einen u-Laut, der aussah wie ein angedeuteter Kuss, doch war es alles andere als ein Kuss, nur ein trauriger Blick: Tut mir leid.
Dann drehte sie sich um und ging. Ohne zurückzublicken. Aber sie war so nah an der Scheibe gestanden, dass ihr letzter Atemzug noch am Glas klebte und von den Enden her verbrannte, wie Papier.


{[(WEILE, WEILE)]}

Noch sitze ich.
Noch bin ich ich.
Noch bin ich hier.

(Sie ist wieder bei mir gewesen. In der Nacht. Sie kommt oft, öfter, als mir lieb ist. Sie flüstert dann.)

Ich weiß nicht, ob ich aufstehen soll. Ich müsste mich, wenn ich mich aufrichte, aufrichtig bemühen, etwas ... zu tun.

(Sie ist ein flüsterndes Wesen. Ich bin die Hexe Leben, zischt sie, komm. Flicht ihr Haar zu einem Tuch, taucht das Tuch ins weiße Wasser, tupft meine Stirn und meine Handflächen und säubert sie vom Grün. Ich bin die Hexe Le­ben, sagt sie, ich will, dass du dich hebst vom Stuhl.)

Noch sitze ich.
Noch bin ich jetzt.
Mein Blick im Spiegel.

(Hexe, schöne Hexe. Spricht leise, ihr Flüstern ein Wispern fast. Ver­stehe sie kaum. Doch wage ich nicht, sie zu bitten, die Stimme zu heben.)

Noch bin ich hier.
Zwischen Sitzen und Aufstehen.
Tun und Nicht-Tun.
Getan-Werden und Getan-worden-Sein.

[Neben dem Tisch schläft ein blauer Ti­ger. Den ganzen Tag lang. Wenn er schläft, ver­daut er Geschehenes. Nachts, bevor er mich und den Tisch und meinen Weile-Stuhl verlässt, bevor er in die Gassen geht und Fleisch aus den Menschen reißt, faucht er. Urkurz. Schlägt seine quadratische Pratze ins Tisch­tuch. Er ist da. Er wird wie­der­kommen. Jeden Morgen. Ich sehe seine blaue Schwanzspitze.]

Ich habe schon den Rücken gebogen. Ich habe schon die Hand aufs rechte Bein gelegt. Es muss nur noch Schnellkraft in mich fließen, schon wäre ich über der Stelle, an der mein Kopf sich gerade befindet. Aber ich warte. Ich weile.

{Wenn der Ti­ger schläft, erwacht die Pflanze. Sie ist mir nahe. Gekommen. Näher, als ich es je für möglich gehal­ten hätte. Wächst unauf­hörlich. Langsam, unausweichlich wächst sie mir entgegen. In mich hinein will sie. In mir breit machen will sie sich. Sanft hält sie meinen Arm um­schlängelt.}

Aber noch bin ich da. Noch weiß ich nicht, was ich tun soll. Stehe ich auf, muss ich mit dem Han­deln beginnen.

(Steh auf, sagt die Hexe.)

{Bleib, sagt die Pflanze.}

Wartet noch, sage ich.

[Und der Tiger geht in die Nacht.]

(Die Hexe haust im Ofen. Ich kann sie des Tags nicht sehen. Sie versteckt sich in der Kälte des Erloschenen. Sie hat das Rohr des Ofens aus der Wand gerissen und auf meine Stirn ge­richtet. Sie lauscht meinen Sätzen, meinen Gedanken-Sätzen, meinen Ti­ger-Sätzen, meinen Pflanzen-Sätzen. Sie lauscht mit großem, schwarzem Ofenrohr-Ohr.)

Wenn ich nur wüsste, was zu tun wäre, ich täte es. Aber statt dass Einer käme und mir sagte, was zu tun wäre, kommt Nie­mand, ein Niemand, der mir gleicht, dort, im Spiegel, in der Spiegel-Fratze, bin ich das?, sehe ich so aus?, ist das mein Kör­per-Ungetüm?, sind das meine sich lang­sam lösenden Au­gen­brauen, ist das meine Haltung?, das ge­bückte Auf-dem-Sprung-Sein?, das Nicht-wissen-wohin?, das soll ich sein?, die­ser Narr, dieser Warte-Narr, dieser Mann ohne Ent­schluss?

{Gib dich mir hin, sagt die Pflanze, lass dich fallen, ich kenne den Weg und das Werden und das Welken. Saugt sich unter meine Haut. Ihr Dorn sticht meinen Arm, und es ist Schmerz. Sie fließt mir langsam in den Kör­persaft. Meine Hände färben sich grün, meine Stirn, mein Ge­sicht. Meine Lippen glänzen in der Farbe des Blüten-Bluts.}

(Komm schon, sagt die Hexe Leben, ich säubere dich, und sie kriecht aus dem Rohr, und sie flicht ihr Haar, und sie ver­sucht, das Erden-Grün der Pflanze abzutupfen.)

[Die Nacht ist zum Fressen da, der Tiger legt sich morgens ne­ben den Tisch und würgt das nächtlich Gefressene zu Boden und frisst es noch einmal, ein ewiger Wiederkäuer desselben, es schmeckt ihm, erst wenn er tigersatt ist, kann er schlafen.]

Ich nicht, ich kann nicht schlafen, nie, bin weder satt noch hung­rig, bin beides zugleich, bin papp-hungrig und dunkel-wach und leben-müde und quick-tot und ...

{Komm zu mir nach unten, dort ist es warm und feucht, kein Ofenrohr, aus dem die Hexe lauscht und aufschreibt, was du denkst, komm mit zu mir, nach unten, in die Welt unterm Tisch, in die Welt un­term Boden unterm Tisch, in die Welt unterm Dreck unterm Boden unterm Tisch, und lass dich rab­ziehen – rab, rab, rab – von mir und meinen Stängeln, erd­schwer, verlassen wir die Vasen der Zer­brechlichkeit, du wirst grün und erdig und das, was du immer schon warst.}

... und teufel-froh und nacht-weiß, nacht-weiß, nacht-weiß, ich weiß nichts mehr, ist der Ofen kalt und die Erde warm, ist der Tiger strotzend, kraft­los, schlafend, Papiertiger, Tintentiger, Leinwandtiger, Tontiger, ich weiß nichts, weiß höchstens, dass ich al­lein sein will, ­weil weil weil ...

Weil.
Dieses stumme Weil.
Das in der Luft hängt.
Satz-Ende-los.
Ohne Fortsetzung.
Dieses Weil mit drei schweigenden Punkten, dieses Weil, dem der Grund fehlt, in dem es ankern kann, dieses Weil, das ins Leere greift und niemals Antwort findet.
Antwort worauf?
Auf die Frage, warum ich hier bin, hier weile.
Künftiges und Vergan­genes sind ein- und dasselbe in zweierlei Masken: Sie teilen den Namen: Vergeb­lichkeit.

Explosion ohne Krach, knallweich, gedämpft, aus dem Loch kommt sie, die lautlose Explosion und weckt sie allesamt, die schlängelnde Pflanze wendet ihr rosa Gesicht zum Spie­gel, die Hexe Leben steckt ihren Kopfschimmer aus dem Ofen, der Tiger schlägt seine Pratze ins Tischtuch, aus dem Loch kommt die Ex­plosion. Mucksmäuschen-laut. Aus dem Loch zwischen meinem Zeige- und Mittelfinger fliegt, fließt, flirrt, flimmert die hellblaue Kugel in den Spiegel meiner selbst, ins Niemand-Bild, und der Spiegel zerbirst, ich kann mich nicht mehr se­hen, ich kann diesen Niemand nicht mehr sehen, der ich bin, was für eine Erleichterung, ihn nicht mehr sehen zu kön­nen, mich nicht mehr sehen zu können.

{Komm, komm, gut, gut! Der erste Schritt!, so die Pflanze.}

[Und der Tiger ist gefangen im Käfig der ewigen Wiederkehr, des endlosen Wiederkäuens, Morgen für Morgen bringt er das­selbe verweste Menschenfleisch, Morgen für Morgen zerfetzt er schon einmal Gefressenes, der Ti­ger, der laue, blaue Tiger.]

(Und die Hexe sagt, was hast du ge­tan?)

Und der Spiegel ist zerklirrt, und allein bin ich und sehe nur noch auf die Wand hinterm Spiegel, auf den leeren Rahmen, aus dem letzte Splitter tropfen, weil ... noch sitze ich ... das köstli­che Gift der Pflanze breitet sich nur langsam aus ... die Hexe hat an meinen Hals gehangen ein goldenes Totem zum Schutz ... zum Schutz wo­vor? ... kann mir keine Antwort ge­ben ... der Tiger faucht ... noch sitze ich, noch bin ich ich, noch drängt mich nichts, noch hock ich dort, noch kann ich aufsprin­gen und mit Vergeblichem beginnen.

Töne singen, die verwehen.
Worte wählen, die vergilben.
Bilder zeichnen, die verrotten.
Noch hock ich dort.
Dem Tiger folgen in die Nacht?
Der Hexe in den Ofen?
Der Pflanze in die Erde?
Noch weile ich im Weile-Stuhl und warte auf den Au­genblick, den Ohren­blick, an dem ich.
Den Knall.
Endlich hören werde.
Mein Ich ist nur der blaue Schwanz des Wortes endlich.

Noch sitze ich.
Noch bin ich ich.
Noch harre ich.
Noch weile ich.
Eine Weile.
Im Warum.
Ohne Weil.

Aus: Unter vier Augen


DIE STIMME

Es gäbe nicht den geringsten Grund, hier bei Ihnen aufzutauchen. Wenn da nur nicht diese Stimme wäre. Seit fünf Wochen diese Stimme. Immer dieselbe Stimme. Es gäbe nicht den geringsten Grund, denn ich war glücklich, Herr Mollenhaupt. Überglücklich. Wusste gar nicht, wohin mit dem Glück. Ich war so glücklich, dass es mir schon fast weh tat. Mein Glück war mit Händen zu greifen, mein Beruf, der Erfolg, der berufliche Erfolg steht über allem, das Erklimmen des Gipfels, höher hinauf geht es nicht mehr bei dem, was ich tue. Ich bin Innenarchitekt, das heißt, so nennen darf ich mich nicht, denn ich habe nicht den geraden Weg gewählt, habe keine dieser Fachhochschulen besucht, Kaiserslautern, Trier, Mainz, habe auch nicht an der Rhein-Sieg-Akademie für Realistische Bildende Kunst und Design studiert, ich bin kein Diplom-Ingenieur und erfülle nicht im mindesten die Anforderung der Architektenkammer, mich Innenarchitekt nennen zu dürfen, ich habe mich hochgearbeitet, habe als Hilfskraft angefangen, als Bürobursche, kann man sagen, bis irgendwann, durch einen Zufall, aber das würde zu weit führen, jemand meinen, wie er sagte, Blick für die Bedürfnisse des Raums entdeckt hat, aber egal, er hat mich gefördert, auch ohne Studium, ich habe bei ihm gelernt, jahrelang, habe Karriere gemacht, Schritt für Schritt, von klein auf, immer weiter, immer höher, heute arbeiten vier Innenarchitekten für mich, und in meinem Büro bin ich zwar Chef, aber Innenarchitekt nennen darf ich mich nicht, und die vier Innenarchitekten arbeiten auch deswegen bei mir, damit draußen auf dem Büroschild das Wort Innenarchitekturbüro stehen darf, ohne dass der Verbraucherschutz uns abmahnt. Was ich sagen will, Herr Mollenhaupt: In gewisser Weise äh- neln sich unsere Berufe. Ich stelle mir den Therapeuten als eine Art Innenarchitekten der Seele vor. Wir beide werden zu Hilfe gerufen, wenn das Licht der Fenster die Tiefe der Räume nicht ausreichend erhellt. Da kommen die Klienten und zeigen Ihnen den Zustand ihres Innenraums, sprechen darüber, was ihnen fehlt und was sie als überflüssig empfinden, und Sie, Herr Mollenhaupt, Sie sagen, vielleicht an dieser Stelle etwas Blaues, hier eine Pflanze, etwas Lebendiges, dieser Farbton muss vermieden werden, dort eine Lichtquelle, die Leute schauen sich ihr Innenleben an und denken, ja, das könnte man machen, hier einen Verdrängungsvorhang wegnehmen, dort einen Teppich hinlegen, um etwas zu verdecken, unsere Berufe ähneln sich, wir beide beschäftigen uns mit Fassadengestaltung und Kernsanierung, mit Bausubstanz und zeitloser Gestaltung der Hülle des Raums, wir beide sind immer auf der Suche nach neuen Innenraumkonzepten. Aber entschuldigen Sie, wenn ich so viel rede, ich rede deshalb so viel, weil ich die Stimme nicht hören will, und die Stimme kommt nur, wenn ich schweige. Also auch dann nicht immer, aber sagen wir so: Nur wenn ich schweige, kann die Stimme kommen. Wenn ich rede, nie. Aber es ist völlig unmöglich, vierundzwanzig Stunden zu sprechen, nein, irgendwann ist kein Speichel mehr da, man ist erschöpft, und dann schlägt sie manchmal zu, die Stimme, und sagt wieder was. Das trifft mich mit einer Wucht, ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll. Sie haben bestimmt schon von mir gehört, Büro Woll, Lindenallee, Entwurf, Planung, Bauleitung, Facility Management, Nutzerkoordination. Ich habe alles getan, was ein Mann tun muss, wie man sagt, ich habe ein Haus gebaut, ein wunderbares Haus im Grünen, direkt beim Flüsschen, da kann man zu sich selbst finden, ich habe eine Frau und einen Sohn, mittlerweile lebt der in Australien, ist zweiundzwanzig, führt sein eigenes Leben, ich habe ihn zur Selbständigkeit erzogen, ich habe einen Baum gepflanzt, man soll doch einen Baum pflanzen, ich habe sogar mehrere gepflanzt in meinem Garten, ich habe also alles erledigt, was ein Mann tun soll, wie Konfuzius sagt oder wer auch immer: Kind, Haus, Baum, dazu mein Beruf. Bin glücklich gewesen, vor allem mit meiner Frau. Meine Frau und ich, wir sind seit mehr als fünfundzwanzig Jahren zusammen. Wir ottern nicht mehr jeden Tag, wie zu Beginn, wir ottern aber immer noch zweimal die Woche, und das Ottern hat in all den Jahren nichts von seiner Frische verloren, oft verliert man die Leidenschaft beim Ottern, wir aber ottern ungebrochen gern, und in all den Jahren hat keiner von uns mit einem anderen geottert, immer nur ich mit meiner Frau, immer nur sie mit mir, entschuldigen Sie, dass ich Ottern sage, diese anderen Worte gefallen mir nicht, sie sind so phantasielos. Eigentlich kann ich mit allem, was mich bedrängt, zu meiner Frau gehen, nur als diese Stimme auftauchte, nein, das hab ich ihr verheimlicht, und jetzt, seit einer Woche, also nach meinem Auszug, die Sache ist nicht so einfach, wie sich das anhört, wissen Sie, ich tue mich selber schwer damit, klarzukommen, was passiert ist in meinem Leben, so ist das eben, da kann man nichts machen, und meine Frau wird mir niemals verzeihen, dass ich sie geschlagen habe. Aber da konnte ich nichts für, das war nicht ich selbst, das war eine Sache, die mir entglitten ist, ich hätte nie von mir aus meine Frau geschlagen, ich bin alles andere als ein gewalttätiger Mensch, das müssen Sie mir glauben, ich könnte keiner Fliege was zuleide tun, nein, ich weiß noch, als meine Klassenkameraden, wir waren damals zehn Jahre alt, eine Fliege gefangen und ihr die Flügel ausgerissen und das Feuerzeug auf maximale Flammengröße gestellt und mit einem Feuerstoß die Fliege weggezischt haben, die Fliege ist zusammengeschnurrt und war tot, da haben alle gelacht, nur ich, ich war entsetzt. Nein, dieser Schlag, das war kein Ausrutscher, es war keine Wut, nein, es war eine eiskalte Tat, es gab keinen Anlass dafür, und vielleicht war genau das der Anlass, dass es keinen Anlass gab, und danach musste ich ausziehen, natürlich, und ich danke Ihnen, Herr Mollenhaupt, dass Sie so schnell einen Termin für mich einrichten konnten. Soll ich Ihnen erzählen, wann ich zum ersten Mal die Stimme hörte? Vor fünf Wochen, ich weiß es genau, es war der letzte Tag meines Urlaubs, ein Sonntag, ich bummelte durch die Stadt, die Sonne schien, ich grinste und sagte mir, Mensch, Sebastian, du hast es geschafft, und ich zählte mir vor meinem geistigen Ohr all die Erfolge auf, all die Dinge, die mir in meinem Leben gelungen sind, all das, was ich Ihnen schon angedeutet habe, mehr, sagte ich mir, kann ein Mensch nicht erreichen, und vielleicht kennen Sie das, Herr Mollenhaupt, wenn Sie ein pures Glücksgefühl übermannt? Ich habe dieses Gefühl ausgekostet, es ist mir gelungen, was die meisten Menschen sich wie nichts auf der Welt wünschen, das anhaltende Glück, das konservierte Glück, es pulsiert nicht immer mit der gleichen Stärke, es gibt Momente, an denen es dem Leben einen wohligen Grundton verleiht, und Momente, an denen es so stark pocht und leuchtet und sprudelt, dass man es schier nicht aushalten kann, dass man geblendet ist und überschwemmt von der Urgewalt, und auch an diesem Sonntag war das so, dass ich nur die Augen schließen konnte, dort, in der Fußgängerzone, die Arme ausbreiten und sagen konnte: Ich bin es, der Glückliche. Ich stand vollkommen im Blitz, bis ich plötzlich merkte, dass da etwas geschah, dass da etwas über mich kam, wie ein Sausen zunächst, und ich wusste in diesem Augenblick schon, dass sich etwas verändern würde in meinem Leben, auf radikale Weise, fragen Sie mich nicht, woher ich das wusste, jedenfalls stand ich da und hörte die Stimme. Sie ging mir durch und durch, ich wankte, griff mir an die Stirn, beinah hätte sie mich buchstäblich umgeworfen, die Stimme, und ein Passant trat auf mich zu und fragte mich, ist Ihnen nicht gut, nein, sagte ich, mir ist nicht gut. Kommen Sie, sagte er und führte mich zu einer Bank, und ich setzte mich und erholte mich nur mühsam von den Worten der Stimme. Und ich wusste sofort, dass die Stimme nicht aus mir kam, ich hörte die Stimme nicht etwa mit inneren Ohren, nein, die Stimme war schon draußen, in der Welt, weshalb ich sofort den Mann, der mir geholfen hatte, fragte, ob auch er die Stimme gehört hatte, doch er fragte zurück, welche Stimme?, und da wusste ich, dass die Stimme zwar von außen kam, aber nur für mich bestimmt war, nur für meine Ohren, ich saß da und schaute mich um und wartete darauf, dass die Stimme weiter zu mir sprach. Aber sie schwieg. Sie müssen sich noch einmal in meine Situation versetzen. Ich – glücklich, zufrieden, alles erreicht. Stehe dort, in Erwartung der frohen Zukunft. Und dann aus dem Nichts: die Stimme. Sie wollen jetzt sicher wissen, was genau sie mir sagte? Kein Problem. Der, der, der genaue Wortlaut? Ja? Die Stimme fragte mich: Und jetzt? Das war alles. Nicht mehr und nicht weniger. Aber ich wusste genau, was sie meinte: Und jetzt?, fragte sie. Sofort dachte ich, das kann nicht alles sein. Nur des Glücks wegen leben kann nicht alles sein. Es muss noch mehr geben. Der Passant nickte mir zu und ließ mich allein. Warum lässt er mich allein?, fragte ich mich. Allein, dachte ich plötzlich. Dieses Wort. Fühlte mich so allein und dachte an meinen Sohn, der in Australien lebt, mein Sohn, dachte ich, der ist so weit weg, da drüben, ganz allein, in einem Hochhaus in der Flinders Lane, East Melbourne, ich bin erst einmal dort gewesen, das ist in der Nähe der Treasury Gardens, keine sonderlich ruhige Gegend, man kann die Züge hören, aber in diesem Augenblick, da spürte ich, dass auch mein Sohn sich gerade allein fühlte, Marc heißt er. Und kennen Sie das? Wenn sie die Traurigkeit eines anderen Menschen spüren? Wenn sie fühlen, wie der andere Mensch leidet? Der geliebte Mensch? Eine bittere Traurigkeit. Ich dachte, vielleicht sitzt er einsam im Verge Restaurant nebenan oder schlendert ohne Interesse durch die Aboriginal Art Galleries, vielleicht steht er im Architext Bookshop, kaum zweihundert Meter entfernt, und denkt an mich, egal, in jedem Fall ist er allein. Aber diese Traurigkeit bekam mit einem Mal eine völlig neue Färbung, etwas wie, ich weiß nicht, Schadenfreude, nein, ich weiß nicht, Herr Mollenhaupt, mir fällt auf, dass Sie gar nicht so viel reden, wie ich dachte, vielleicht gibt er mir Ratschläge, dachte ich, aber wahrscheinlich ist das längst überholt in der Psychotherapie, aber etwas mehr Beteiligung Ihrerseits hätte ich mir schon gewünscht, oder liegt das daran, dass ich hier so ohne Punkt und Komma rede, das wird es sein, aber Sie wissen ja, dass ich eine Pause im Gespräch nicht aushalten kann aus den genannten Gründen, daher bitte ich Sie, dass Sie, falls Sie etwas zu sagen haben, mir einfach gnadenlos ins Wort fallen. Aber bitte, Herr Mollenhaupt, ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse, ich hasse es, wenn man alles in Schubladen sperrt. Ich brauche einen Psychologen, der in der Lage ist, frei von allem, was er je in seinem Leben gelernt hat, an den Menschen heran- zugehen. Sehen Sie, ich kann mir vorstellen, Sie haben jahrelang studiert. Sie kennen sich aus. Sie wissen alles. Sie sind eine Koryphäe, Sie halten Vorträge, und da erwarte ich von Ihnen, dass Sie Ihr gesamtes Wissen einfach vergessen können. Ich bin der festen Überzeugung, dass ein Psychologe nur helfen kann, wenn er in der Lage ist, alles zu vergessen, was er gelernt hat. Wenn er dem Menschen unvoreingenommen gegenübersitzt. Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn ich hier rede, und während ich rede, rattert es schon in Ihrem Kopf wie in einem Spielautomaten, Sie denken, was könnte das sein, was könnte er haben, wie könnte ich ihm helfen, es rattert und rat- tert und hört nicht mehr auf zu rattern, und all die abertausend Seiten Papier, die Sie in Ihrem Studium lesen mussten, werden da durchgerattert, bis es irgendwann klick macht, und dann blei- ben drei Sterne stehen in Ihrem Gehirnspielautomaten, Sie sagen, ich hab's, ich weiß, woran er krankt, ich hab die Diagnose, und wenn ich die Diagnose hab, dann steht auf der Rückseite der Diagnose schon die Therapieform, stellen Sie sich vor, das würde passieren, das wäre ja grauenhaft, aber ich bin mir sicher, das geschieht ständig, in Abertausenden von Praxen geschieht dies, tagaus, tagein, weil die Psychologen so gut ausgebildet sind, weil sie so viel wissen, und dabei geht es nur darum, von diesem Wissen abzusehen, das Wissen über Bord zu werfen, um ganz nah beim Menschen zu sein, der vor einem sitzt, und das ist sicher das Schwierigste, da zeigt sich der Meister, und deshalb bin ich zu Ihnen gekommen, weil ich mir das von Ihnen erhoffe, weil ich will, dass Sie nicht gleich eine Diagnose erstellen, Schizophrenie oder Tourettesyndrom oder krude narzisstische Störung oder was Ihnen sonst noch einfällt oder einfallen könnte, nein, ich hasse die Schubladen der Psychologie, ich hasse sie, ich will nicht in eine solche gesteckt werden. Egal. Ich verbrachte die nächsten Wochen in irrer innerer Anspannung, mit angehaltenem Atem, weil ich immer dachte, die Stimme könnte auftauchen, von irgendwoher, ich habe immer nur darauf gelauert, dass es geschehen könnte, und es geschah auch, immer dann, wenn ich es am wenigsten gebrauchen konnte, in Gesprächen mit Kunden zum Beispiel, wenn mich ein Kunde fragte, wo denn das Bücherregal zu platzieren sei, um den Effekt der größtmöglichen Praktikabilität mit den Effekten der größtmöglichen Unauffälligkeit oder Eleganz zu koppeln, und in diesen Augenblicken, mitten ins erwartungsvolle Schweigen des Kunden, hörte ich die Stimme, die mich fragte: Interessiert dich das?, und ich brach die Kundengespräche ab. Anfangs habe ich mich noch bei den Kunden entschuldigt und gesagt, mir sei nicht gut, aber sehr schnell habe ich in solchen Gesprächen nur den Kopf geschüttelt und bin einfach gegangen. Und dann klingelte zu Hause das Telefon, und eigentlich freue ich mich darauf wie auf nichts anderes, wenn mein Sohn anruft, das müssen Sie mir glauben, mit niemandem bin ich so sehr verbunden wie mit meinem Sohn, niemandem habe ich so viel Zeit und Geduld und Liebe geschenkt wie meinem Sohn, ich habe ihn nächtelang durch die Wohnung getragen, als er ein Baby war, in Froschhaltung an meine Brust gekauert, mit dem Daumen im Mund, den Geruch des Vaters eingesaugt hat er und Geborgenheit getankt, alles würde ich für meinen Sohn tun, ich fiebere dem Anruf meines Sohns wie nichts auf der Welt entgegen, um zu erfahren, wie es ihm geht. Aber an diesem Tag hörte ich meinen Sohn sprechen und mein Herz rührte sich nicht, ich hob ab, er sagte, Marc hier, ich sagte, hallo Marc und er redete, aber ich starrte nur zur spärlich beleuchteten Wand, und auf der Wand zeichnete sich ein hässliches Gesicht ab, und ich dachte, das Gesicht passt zu dieser Stimme, die sich in mein Leben gestohlen hat, ich hörte gar nicht richtig auf das, was mein Sohn mir sagte. Es fiel das Wort Heimweh, und für gewöhnlich hätte ich sofort eine Chance gewittert, hätte ihm gesagt, komm zurück, mein Junge, wir haben immer einen Platz für dich, du kannst auch hier bei uns studieren, wir geben dir alles, was du brauchst, aber ich sah nur auf das Gesicht in der Wand, das der Stimme gehörte, und ich sagte meinem Jungen, da musst du durch. Er schwieg, überrascht, traurig über diese Worte, ich selber war genauso überrascht, aber in mir stahl sich eine klammheimliche Freude hoch, es war die Freude, einem Menschen wehzutun, den man liebt, ja, einem Menschen wehzutun, den man liebt, kann viel mehr Freude bereiten, als jemandem wehzutun, den man hasst, diese klammheimliche Freude, das ist ein perfides Gemisch aus Enttäuschungssucht, Liebessattheit und vorauseilender Reue, aus Bindungsüberdruss und Freiheitsdrang, aber ich kannte das Gefühl nicht, bis zu dem Moment, da ich meinem Sohn sagte, da musst du durch, und dann sagte ich nichts mehr, und er auch nicht, wir schwiegen uns an über Tausende von Kilometern, ich starrte auf die stumme Stimme in der Wand, und mein Sohn starrte wohl auf das Telefon vor ihm oder aus dem Fenster auf das Schönheitsstudio, ihm werden Tränen in die Augen getreten sein, selber schuld, dachte ich, was springst du in East Melbourne herum, was machst du da?, ich sagte aber nichts, sagte nur noch, ich müsse zurück an die Arbeit, auf bald, sagte er, auf bald, sagte ich, hab euch lieb, sagte mein Sohn, und ciao, sagte ich, ciao, genau, nicht, hab dich auch lieb, nein, ciao, sagte ich, legte auf, und die Stimme sagte: Na also, geht doch. Nicht mehr, nicht weniger. Geht doch. Von diesem Augenblick an wurde ich immer aggressiver. Dieser Hass auf alles, was ich erreicht habe, dieser ab- grundtiefe Hass, diese Klebrigkeit des Wohlbefindens, wir sind dazu verdammt, wir können es nicht aushalten, es fegt uns weg, das Glück als dehnbarer Zustand, ich habe es erlebt, früher oder später hört jeder diese Stimme, die ihm das Glück versalzt, so, wie ich die Stimme gehört habe. Ich weiß gar nicht mehr, was sie sagte, die Stimme, an diesem Abend, an dem ich meine Frau schlug, ich weiß nur noch, was meine Frau sagte, ganz genau, sie sagte: Bringst du mir bitte die Fernbedienung? Ich stand auf und hatte wirklich und ehrlich vor, ihr die Fernbedienung zu bringen, sah meine Frau dort sitzen auf dem Sofa, in ihren Schlappen, in diesen grüngelben Schlappen, in ihrem Bademantel, diesem rüschigen, rosa Bademantel, sie war frisch geduscht und roch nach Vanille und Kokos, ein Handtuch im Haar, sie saß da, wie sie oft dasaß, an vielen Abenden, die Fernbedienung lag bei mir auf dem Esstisch, ich ging zu meiner Frau, und sie hatte den Kopf zurückgelehnt, massierte sich den Nacken, mit geschlossenen Augen, und erst als ich ihr die Fernbedienung reichen wollte, merkte ich, dass ich sie auf dem Tisch hatte liegen lassen, und genau in diesem Augenblick schlug ich zu, es gab keinen Grund, aber ich tat es, ich musste es tun, was die prompte Trennung zur Folge hatte, da gibt es nicht mehr viel zu diskutieren. Sehen Sie, Herr Mollenhaupt, diese Stimme ist gekommen und hat mir mein Leben unter den Füßen weggerissen, nicht ich war es, der nun handelte, sondern die Stimme, die über mich kam und die mich langsam, aber sicher alles zertrümmern ließ, was ich mir über Jahrzehnte hinweg aufgebaut hatte. Meine Firma, ich habe eine diebische Freude daran, meine Firma zu vernichten! Bekomme ich Anrufe von Kunden, sage ich ihnen, wir haben keine Kapazitäten mehr, obwohl das gelogen ist, wir hätten noch genügend Kapazitäten, wir haben ja immer mehr Kapazitäten, je hartnäckiger ich die Leute verscheuche, aber ich frage Sie, Herr Mollenhaupt, was ist der Sinn, wofür tun wir das alles, was gibt uns das? Das stagnierende Glück, das ist der Anfang vom Ende, es ist die Schwester des Todes. Ich werde Insolvenz anmelden, das wird ratzfatz gehen, ich habe das Haus meiner Frau und meinem Sohn überschrieben, mein Sohn hat seinen Besuch angekündigt, aber er wird mich hier nicht mehr finden, er will nach dem Rechten sehen, will wissen, was mit mir los ist. Ja, was ist mit mir los? Ich bin wieder unten, Herr Mollenhaupt, am Anfang, ein Weg liegt vor mir, frei, nichts vorgegeben, ohne Bindung, ohne irgendwas, ist es das, was die Stimme mir hat schenken wollen? Das jedenfalls rede ich mir ein. Ich hoffe so sehr, dass die Stimme jetzt schweigt. Dann wieder denke ich, noch ist mir nicht alles genommen! Was, wenn die Stimme mir auch noch das nehmen will, was mir geblieben ist: mein Leben? Ich rede so viel, weil ich fürchte, die Stimme wird noch mehr verlangen, weil ich fürchte, wenn ich schweige, wird sie über mich kommen und Steig ins Auto sagen, und ich werde aufstehen und ins Auto steigen, und ich werde zur Brücke fahren, zur Autobahnbrücke, sechzig Meter hoch, ich werde aus dem Auto steigen und um das Auto herumlaufen, und die Stimme wird sagen: Spring. Und die Sekunden, in denen ich abhebe, Herr Mollenhaupt, davor habe ich am meisten Angst, in diesen Sekunden werde ich zu mir kommen. Davor graut mir, vor den Sekunden, in denen mir klar wird, dass ich alles weggeworfen habe, was ein Mensch wegwerfen kann, davor graut mir, dass ich dort fliege und mir im Augenblick des Fliegens nichts so sehr wünsche, als anzuhalten, umzukehren, davor habe ich Angst. Nein. Das kann. Das darf. Das wird nicht geschehen, nein. Die Stimme hat doch erreicht, was sie erreichen wollte, ich bin wieder unten, am Anfang, das muss es sein, was die Stimme mir hat schenken wollen, nicht mehr, nicht weniger. Irgendwann, Herr Mollenhaupt, irgendwann muss doch Schluss sein. Und ich frage mich, weshalb ich hier sitze, Herr Mollenhaupt, es geht mir nicht gut, ich bin am Ende, aber wenn wir am Ende sind, sind wir zugleich am Anfang. Wir bleiben unser Leben lang Kinder, die den Turm aus Bauklötzen niemals stehen lassen können. Ich bin froh, dass ich es so offen aussprechen kann, Sie sind ein guter Therapeut, Herr Mollenhaupt, ich danke Ihnen für Ihre Geduld, Ihre Therapie, das funktioniert ganz wunderbar, Ihre, wie soll ich das nennen, Ihre monologzentrierte Kliententherapie oder klientenzentrierte Monologtherapie, das hat mich geheilt, das hat mir die Gewissheit gegeben, dass alles, was ich tue, einen Sinn ergibt, ich leide wie ein Hund, Herr Mollenhaupt, aber nur, weil ich leide, habe ich das Gefühl, am Leben zu sein, ins Leid bin ich geheilt, werde nun gehen, Herr Mollenhaupt, ich denke nicht, dass ich noch mal wiederkomme, die Stimme wird zu sprechen aufhören, sie muss zu sprechen aufhören, alles andere ist nicht denkbar, sie hat erreicht, was sie wollte, ihr Werk ist vollbracht, ich kann neu beginnen, mein Leben aufzubauen, um es dann wieder umzuwerfen, so lange, bis das Leben selbst sich am Schluss umwerfen wird, der letzte Turm, der Turm des Atmens. Ich danke Ihnen. Nein, nein, bleiben Sie sitzen, Herr Mollenhaupt, ich finde schon selber raus.

Aus: Irgendwann ist Schluss


Markus Orths wurde 1969 in Viersen geboren, studierte Philosophie, Romanistik und Anglistik in Freiburg und lebt als freier Autor in Karlsruhe. Der Roman "Picknick im Dunkeln" ist sein zwölftes Buch. Es erschien 2020 Carl Hanser Verlag und erhielt vorab das Jahresstipendium des Deutschen Literaturfonds. Orths' Romane sind in insgesamt achtzehn Sprachen übersetzt worden. Im Jahr 2017 übernahm er die 36. Paderborner Poetikdozentur, und 2018 wurde er 31. Bamberger Poetikprofessor. In Paris gewann das Stück "Femme de Chambre" den Prix Théâtre 13 und den Publikumspreis. Im Theater Baden-Baden wurde "Die Entfernung der Amygdala" uraufgeführt. Der Film "Das Zimmermädchen Lynn" (nach dem Roman "Das Zimmermädchen") kam 2015 in die Kinos. Zudem schreibt Markus Orths Hörspiele und Kinderbücher: Zuletzt erschien 2020 das erzählende Kinderbuch "Luftpiraten".

2018/2019: Jahresstipendium des Deutschen Literaturfonds
2012: Prix Théâtre 13 in Paris und Publikumspreis (für: Femme de Chambre)
2012: Spreewald Literatur-Stipendium
2012: Preis des Stückewettbewerbs Theater Baden-Baden
2011: Phantastikpreis der Stadt Wetzlar
2009: Niederrheinischer Literaturpreis der Stadt Krefeld
2008: Landesstipendium Baden-Württemberg
2008: Telekom-Austria-Preis in Klagenfurt
2006: Heinrich-Heine-Stipendium
2006: Walter-Scott-Preis
2004: Stipendium Autorenwerkstatt Theatertexte im Literarischen Colloquium Berlin
2003: Stipendium Künstlerhaus Kloster Cismar
2003: Limburgpreis
2003: Förderpreis des Landes NRW
2002: Marburger Literaturpreis, Förderpreis
2002: Stipendium Literarisches Colloquium Berlin
2002: Stipendium Kunststiftung Baden-Württemberg
2002: Stipendium Stuttgarter Schriftstellerhaus
2001: Stadtschreiber von Schwaz
2000: Moerser Literaturpreis
2000: open mike der literaturWERKstatt Berlin
2000: Stipendium Klagenfurter Literaturkurs

Picknick im Dunkeln. Roman. Carl Hanser: München 2020.
Der bescheidenste Autor der Welt. Die vier Bamberger Poetikvorlesungen. Königshausen & Neumann: Würzburg 2019.
Max. Roman. Carl Hanser: München 2017.
Alpha & Omega - Apokalypse für Anfänger. Roman. Schöffling & Co.: Frankfurt/Main 2014.
Irgendwann ist Schluss. Erzählungen. Schöffling & Co.: Frankfurt/Main 2013.
Die Tarnkappe. Roman. Schöffling & Co.: Frankfurt/Main 2011 (btb: München 2013).
Hirngespinste. Roman. Schöffling & Co.: Frankfurt/Main 2009 (btb: München 2011).
Das Zimmermädchen. Schöffling & Co: Frankfurt/Main 2008 (btb: München 2010).
Fluchtversuche. Erzählungen. Schöffling &Co.: Frankfurt/Main 2006 (btb: München 2009).
Catalina. Roman. Schöffling & Co.: Frankfurt/Main 2005 (Goldmann: München 2006).
Lehrerzimmer. Schöffling & Co: Frankfurt/Main 2003 (Neuaufl. btb: München 2012).
Corpus. Schöffling & Co: Frankfurt/Main 2002 (Heyne: München 2003).
Wer geht wo hinterm Sarg?. Erzählungen. Schöffling & Co: Frankfurt/Main 2001 (btb: München 2010).
Schreibsand. Erzählungen. edition sisyphos: Köln 1999.

Luftpiraten. Roman für Kinder. Ueberreuter: Berlin 2020.
Das große Buch von Billy Backe. Ravensburger: Ravensburg 2018.
Der reichste Junge der Welt. Moritz: Frankfurt a.M. 2018.
Billy Backe und Mini Murmel. Ravensburger: Ravensburg 2016.
Das Zebra unterm Bett. Moritz: Frankfurt a.M. 2015.
Billy Backe aus Walle Wacke. Ravensburger: Ravensburg 2015.

Wer auch immer. WDR: 2015.
Die Entfernung der Amygdala. SWR: 2014.
Bischoff gegen BRD. NDR: 2014.
Hirngespinste. WDR: 2013.
Lovegames. Hörspiel. WDR: 2013.
Das Zimmermädchen. Hörspiel. NDR: 2013.
Im Séparée. Hörspiel. WDR: 2013.

Das Zimmermädchen Lynn. (ab Mai 2015 im Kino)

Die Entfernung der Amygdala. Uraufführung Theater Baden-Baden: April 2013.
Femme de Chambre. Uraufführung: 2012.

Auswahl:

In Anthologien:
Geschichten auf Schienen. Rowohlt: Reinbek 2002.
Vom Fisch bespuckt. Kiepenheuer & Witsch: Köln 2003.
Die Handtasche. In: Anthologie zum Würth-Literaturpreis. Herbst 2001.
Angstgestalten. In: VFS – Anthologie, September 2000.

In Literaturzeitschriften:
Lac Leman. In: entwürfe Nr. 27, Winter 2001.
In der Wanne. In: macondo Nr. 6., Oktober 2001.
Im Stühlinger. In: ndl Nr. 537, Mai/Juni 2001.
Hinweise für den, der nicht weiß, wer er ist. In: Lichtungen Nr. 86, Juni 2001.
Backgammon. In: macondo Nr. 5, Mai 2001.
Vivian und Die schwarze Wand. In: Ort der Augen 1/2001, April 2001.
Confiteor und Untergang. In: erostepost Nr. 24, Frühling 2001.
Hinweise für den, der nicht weiß, wer er ist. In: titel online, Januar 2001.
Brief eines Butlers. In: entwürfe Nr. 24, Dezember 2000.
Backgammon. In: Der Literaturbote Nr. 60, Dezember 2000.
Der Gräber. In: ndl Nr. 534, Nov/Dez 2000.
Vom Reisen. In: Muschelhaufen Nr. 41, November 2000.
Denkmal. In: Laufschrift Nr. 9, November 2000.
Koffer. In: jederart Nr. 14, Oktober 2000.
Wer geht wo hinterm Sarg?. In: Wortlaut Nr. 3, Oktober 2000.
Krakenkampf. In: junge welt Nr. 205, September 2000.
Mann in Nacht. In: macondo Nr. 4, August 2000.
Speckkäfer. In: Gegenwind Nr. 14, Juli 2000.
Filmmusik. In: Wandler Nr. 26, Juni 2000.
Krakenkampf. In: Am Erker Nr. 39, Juni 2000.
Groschengeschichte. In: Literatur am Niederrhein Nr. 45, Mai 2000.
Kassandra. In: Zeichen & Wunder Nr. 37, Januar 2000.
Brombeerblick. In: Podium Nr. 113/114, Januar 2000.
Filmmusik. In: ndl Nr. 529, Jan/Feb 2000.
Einbrüche. In: Eiswasser Nr. I/II 1999, Dezember 1999.
Wasser. In: entwürfe Nr. 20, Dezember 1999.
Kassandra. In: Wandler Nr. 25, Winter 1999/2000.
Rückkehr. In: exempla, Jg. 25. Bd 2, November 1999.
Sprengstoff. In: Kaltland Beat. Hrsg. von Boris Kerenski & Sergiu Stefanescu. Ithaka: Stuttgart 1999.
Smalltalk. In: Passagen Nr. 2/99, März 1999.
Der Gerz. In: junge welt Nr. 49, Februar 1999.
Die letzte Wespe. In: cet Nr.5, Januar 1999.
Der Gerz. In: Gegenwind Nr. 12, Juli 1998.
Un- und Zufälle. In: Impressum Nr. 11, Juli 1998.
Stille. In: Der Störer Nr. 17, Juni 1998.
Dividuum. In: Labyrinth & Minenfeld Nr. 13, Juni 1998.
Zwei Ströme. In: Krautgarten Nr. 32, März 1998.
Zugfahrt. In: cet Nr. 3, Januar 1998.
Sprengstoff. In: Der Störer Nr. 16, September 1997.

Konzepte - Literatur zur Zeit. (Mitherausgeber).

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Aktualisiert 04.07.2021