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Ulrich Peltzer


LITon.NRW Autor*innen
Ulrich Peltzer
1956
Krefeld
Berlin
Krefeld
Niederrhein, Rheinland komplett
Prosa
Maybachufer 3
12047 Berlin
030-69536527

Arbeitsproben (1)

 

Aus: ALLE ODER KEINER

1
Es würde noch etwas geschehen hier, das lag für mich in der Luft, wie schon die Sache mit der Polizei eine Aktion, die sie heimlich geplant hatten, genau vorbereitet, auch wenn jetzt alles wieder ruhig schien, so wie jeden Nachmittag um diese Zeit, die Geschäfte sind offen, und zahlreiche Menschen bevölkern die Straßen, erledigen Einkäufe oder sehen sich die Auslagen der Schaufenster an, Hausfrauen mit ihren Tüten und Körben, umschlungene Paare, Rentner, denen die Stunden zu lang werden, ohne wirkliches Ziel, von einem Café ins nächste schlendernde Müßiggänger.
Die Kundgebung auf dem Platz im Zentrum war kurz gewesen, bis zu ihrem abrupten Ende nichts Besonderes, eine junge Frau hatte, auf einer Telefonzelle stehend, zu den vielleicht zweihundert Demonstranten durch ein Megaphon gesprochen, das ihre Stimme verfremdete, sie klang hohl, wie von weither, als handele es sich um eine Aufzeichnung oder ein Echo, der scheppernde Widerhall einer Rede aus ineinanderfließenden Worten und Sätzen, in einer mir unbekannten, nie zuvor gehörten Sprache, angeblich kaukasischen Ursprungs und bis vor wenigen Jahren mit Gefängnis bestraft, gebrauchte man sie öffentlich, wahrscheinlich ihre alte Forderung nach Freiheit erhebend, Unabhängigkeit, man streckte Fäuste in die Luft, und manchmal rief von unten jemand etwas hoch.
Gerade angekommen, wußte ich nicht, worauf die Geschichte hinauslief, Florencio hatte nichts gesagt, zuerst machen wir dies, dann jenes, aber es kam mir wie eine Inszenierung vor, wie ein Täuschungsmanöver, dessen Zweck für mich im dunkeln lag, noch undurchschaubar, was da eigentlich losgehen sollte, und gegen wen, ich sah keine Frontlinie, so wenig sich ein Adressat erkennen ließ, die Passanten wirkten unbeteiligt, kaum daß einer neugierig geworden und hinzugetreten wäre, Beifall spendend, nickend oder kopfschüttelnd, vielmehr schien das Ganze für sie alltäglich zu sein, normal, jedenfalls nicht den geringsten Umweg wert, es hieße also abzuwarten, wie sich die Dinge entwickelten.
Das fällt einem schwer, wenn man gespannt ist, Nervosität ergreift vom Körper Besitz, Fickrigkeit, die sich entladen will, meine Beine geraten in Bewegung, treten auf der Stelle und führen ein Eigenleben wie Atem und Herzschlag, nicht zu kontrollieren, das sympathische System, das Adrenalin in die Blutbahnen pumpt, bereit zu Flucht oder Angriff, eine Art Selbstschutz, mit dem wir ausgestattet sind, übergroße Wachheit praktisch, in die sich auch jede Müdigkeit irgendwann verkehrt, in die sie nach soundsoviel Stunden ohne Schlaf zurückschlägt, von Madrid Auto gefahren die halbe Nacht und den halben Tag, ein gutes Stück hatte es geregnet, feiner sprühender Regen, der unter den Wischern einen dünnen Film bildete, hinter dem die Straße verschwamm, Mittelstreifen, Leitplanken, das Licht entgegenkommender Wagen flächig streuend, grell, als blickte man direkt auf eine weiß flackernde Leinwand, für Sekunden geblendet, dann wieder dunkle Schemen von Landschaft links und rechts, die im Morgengrauen, jenseits des Hochplateaus, langsam Form annahmen und zu Hügeln, Bäumen, Schildern, einzelnen Häusern mit festen Umrissen wurden, wie die Linien und Schraffuren einer Radierung abgehoben gegen den milchigen Himmel, ich rauchte und hörte laut Musik, ein Weckprogramm des staatlichen Rundfunks, mich Kilometer für Kilometer meinem Ziel nähernd, den Weg von der Stadtgrenze aus zu sich hatte Florencio mir in einem postgelagerten Brief beschrieben.
Und nun? Etwas würde folgen, das war der Grund unserer Anwesenheit auf dem großen Rechteck des arkadenumsäumten Platzes, eine Unruhe an den Rändern, die sich atmosphärisch fortpflanzte, spielte die Rolle des Vorboten, wie Fall oder Steigen des Luftdrucks, es entstehen Wirbel, kaum merklich anfangs, und bringen das Gleichgewicht des Raumes durcheinander, als beginne er zu kippen, balle sich außen zusammen, wo die Seitenstraßen einmündeten, so daß man unwillkürlich seinen Kopf in alle Richtungen wandte, sprungbereit, da riß die Stimme aus dem Megaphon plötzlich ab, verstummte, während ihr Ton einem noch in den Ohren blieb, ein taubes Gefühl, das keinen Inhalt hatte, die Hülle der Sprache, ein leeres Rauschen, könnte man sagen, aus dessen Schatten die gewöhnlichen Geräusche erst nach und nach wieder hervortraten, Verkehrslärm zum Beispiel, Motoren, Schritte, bis sie, der Block der zweihundert mit seiner Anführerin oben auf der Telefonzelle, ein Lied zu intonieren begannen, gar nicht zaghaft, sondern so laut wie möglich, im Stil einer Hymne, und Florencio neben mir sang auch, mit zweifelsfrei ernster Miene.
Jetzt war es soweit, es hatte sich gelohnt, das Gleichgewicht kollabierte, brach endlich weg, denn städtische Polizei tauchte von überall her auf, aus allen Ecken, wurde zwischen den Bögen der Arkaden sichtbar, als habe sie schon lange im Halbdunkel dort gekauert, kam, teils im Laufschritt, aus den Straßen, die an mehreren Stellen das fugenlose Karree der Fassaden wie ein paar schmale, sauber geführte Schnitte von oben nach unten durchtrennten, der Gesang ist ihr Zeichen gewesen, los, nicht noch eine Strophe, und man hörte eine Trillerpfeife in der Luft, ein lautes, hell gurgelndes Geräusch von stoßweise herausgepreßtem Atem, während sie sich uns schnell näherten, die uniformierten Spitzen einer in sich gestaffelten, leicht auseinandergezogenen Kette, mit bloßen Händen, das sah ich sofort, ohne Schlagwerkzeuge oder Schilde, wie man es eigentlich kennt, das heißt kannte, und immer erwartet bei solchen Zusammenstößen.

Ein Gezerre fing an, außen, ein Drücken und Schieben, aber alles stand gut um die Telefonzelle, von der herab die junge Frau, deren Namen ich vergessen habe, wieder durch ihr Megaphon sprach, die Schlußzeilen des Liedes übertönend, jeder hielt die Arme seiner Nachbarn fest untergehakt und stemmte sich breitbeinig den Versuchen, den entschiedener werdenden Versuchen der Ordnungskräfte entgegen, die Reihen auseinanderzureißen, um in den Block zu kommen, ihre alte Taktik, Grüppchen zu isolieren, beiseite zu drängen und aufzulösen; aber doch nicht ganz bei der Sache, mit letzter Konsequenz, die über einzelne Handgemenge hinaus zu einer groberen, wirklich heftigen Schlägerei geführt hätte, dieses Sichhochschaukeln, Aufladen mit Wut, bis dem ersten die Sicherungen durchbrennen und man instinktiv handelt, körperlich, ohne zügelnden Verstand, nur noch von Reflexen beherrscht, die oder wir, keinen Schmerz mehr empfindend, daß Blut im Gesicht ist, wie ausgeknipst, das schienen sie zu vermeiden, beide Parteien, sofern es sich vermeiden läßt, wenn man auf der Straße einmal damit angefangen hat, seid vorsichtig, behaltet eure Nerven, alles geht nach Plan, in meinem Sichtfeld wenigstens, mir die vagen, sprunghaften Eindrücke des Augenblicks zu einem Bild zusammenreimend, zur Orientierung, um mich sicherer zu fühlen, es besteht keine echte Gefahr, dachte ich, eingekeilt zwischen den anderen, die Situation hier wird nicht ausarten, nicht jetzt, als sei es wie im Theater nur ein Vorspiel, in das ich geraten war, mit Florencio, dem vertraute ich uneingeschränkt.
Rätselhaft, wie so etwas funktioniert, und überhaupt, das ganze Geschehen im Innern des Kopfes, ein nervöser Tumult, Aufruhr, der sich anderswo bemerkbar macht, Herz, Magen, Lunge, Darm, und von dort wieder zurückmeldet, die elektrischen Prozesse verstärkend, die selbst eine Folge der Wahrnehmung sind, blitzartig aufleuchtende und erlöschende Impulse, winzige Spannungsunterschiede zwischen benachbarten Zellen, im Labor als Tintenkurven zu messen, so das piepsende grüne Flimmern eines medizinischen Geräts, in dem sich das Denken zeigt, taktvoll oder zersplittert, wenn man wach ist, beginnt es zu arbeiten, ist da, wie immer schon, unablässig aus jedem beliebigen Material, aus allem, was durch die Sinne schießt, Ketten von Silben und Worten bildend, ein merkwürdiger Vorgang, bei dem chemische Botenstoffe freigesetzt werden, die meistens wissen wohin, an welchem Zielpunkt sie anzudocken haben, um eine spezielle Wirkung hervorzurufen, ein gutes Gefühl, den Namen einer Farbe, Holzrauch: harzig, auf vielfach sich verzweigenden und kreuzenden Spuren, rasend schnell, wie man in Wirklichkeit auch hört und sieht, schmeckt, Phantasien nachhängt denn das läßt sich nicht trennen, als haftete jedem Molekül ein Buchstabe an, eins zu eins praktisch, doch Veränderungen unterworfen und nie ganz stabil, im Lauf der Zeit, die Bindungskraft nimmt mehr und mehr ab, bis ein herkömmliches Muster schließlich zerfällt und ein neues entsteht, unerwartet oft, ein Stich ins Herz, den man sich nicht erklären kann, nur sagen, jetzt ist es passiert, ich hab’s deutlich gespürt, das, was gültige Gegenwart war, in Erzählung verwandelnd, in eine Geschichte, an deren Schnittstellen wir entlangtaumeln, die wir beschwören oder verfluchen, wie besessen davon, sie wachzuhalten und dem Tod zu entreißen, als wäre es der eigene, verstummte man, Ende der Signale, Monitore ohne Anzeige, ein gleichförmig höhenloser Dauerton.
Übrig bleiben Sätze. Die sind wahr oder falsch, einem selbst verständlich oder nicht. Man existiert darin, mit Haut und Haaren, wie es so heißt, sich zeitlebens zur Welt bringend. Unerreichbare Grenze, Außenseite. Nur in rauschhaften Momenten gelingt es, sie einmal zu durchdringen, der Gegenstände wirklich habhaft zu sein, als flüchtiger Besitz, der mit den Worten genau zusammenfällt, was man empfindet, oder empfunden hat, für die Dauer eines bestimmten Liedes, das eben im Radio gespielt wird, beim Anblick einer Fotografie, unter anderem Zeug in einer vergessenen Schachtel gefunden, wenn man liebt, in diesem seltsamen Zustand, über sich hinausgetragen, als hätte man Drogen geschluckt, Sud von Tollkirsche oder Stechapfel getrunken, tagträumend, wie eingesponnen Zeile für Zeile in die Kapitel eines Romans, der das eigene Leben ist, es wieder hervorruft, weiterschreibt, verdichtet, das läuft so runter, ganz automatisch, ein nervöser Tumult zwischen den Schläfen, Auf- und Abbau von Potentialen, dann Muskelkontraktionen, seinen Platz behauptend inmitten einer Menge aus verkeilten Leibern, aufgeregten Stimmen, Polizeikommandos. Manchmal gellte der Klang einer einzelnen Pfeife durch die Luft, wie der Schrei eines Vogels, dachte ich damals, im Strudel der Ereignisse, hin und her gerissen.
Kurze Zeit später war es schon vorbei gewesen, überraschend, wie es angefangen hatte, als würde eine Art Drehbuch realisiert, das die Rollen und Abläufe festlegte, im großen und ganzen, was geschehen dürfe und was nicht, kein sich der Übersicht der Beteiligten entziehender Kampf, sondern nur das Notwendige, Unerläßliche, mit angemessenem Einsatz, doch ohne das ausgesprochene Ziel, den Rückzug der anderen zu erzwingen, man würde heute irgendwie zu einem Ende kommen, in einer halbwegs friedlichen, geordneten Form, da sprengte der Block der etwa zweihundert Demonstranten auf, von innen her explodierend, aus seinem Kern, und durchbrach an allen Seiten die Linie der, wie soll ich sagen, Tuchfühlung, wo man aneinandergeraten war, zerrte und schob, um ein abstraktes Gesetz, eine Weisung des Staates zu erfüllen, stürmte geschlossen darüber hinweg mit dem Schwung einer kollektiv nach außen getragenen Energie, sich im Rücken der ahnungslosen Polizeibeamten zu viert oder fünft sammelnd, man hatte Gruppen eingeteilt, begriff ich nun, als Florencio mich mit sich fortzog.
Gegen siebzehn Uhr, ein Tag Ende September, grau-grüne Regenwolken von der Biskaya warfen eilige Schatten auf die Häuser und in die engen Straßen hinein, ein Wechselspiel von strahlendem Licht und dämmrig huschender Kühle, die einen frösteln machte, wenn man still stand hinter einer Ecke, wie zufällig, als sei nichts, in ein lockeres Gespräch verwickelt, sich Feuer gebend, dabei wurde abgeschätzt, ob sie folgten, oder etwas anderes, Verstärkung holen, doch schien alles ruhig zu bleiben, man hörte keine Sirenen, und auch nicht das unangenehme Geräusch einer Menge übers Pflaster trampelnder Stiefel.
In den Strom der Passanten getaucht, nicht mehr von ihnen zu unterscheiden, nur durch die Halstücher vielleicht noch, dünn zusammengerollte Dreiecke aus Baumwolle, meistens rot oder schwarz, als wäre man auf dem Weg nach Hause, eine Runde drehen, ich versuchte mir die Stadt einzuprägen, wo wir gingen, an welchen Kreuzungen wir abbogen, ausgeblichener Putz, von Wetter und Alter zernagt, ein mattes fleckiges Braun, das zimmerhohe Fenster mit dunklen, gerippten Läden und schmiedeeisernen Brüstungen entließ, schmale umlaufende Austritte, die sich manchmal sprunghaft erweiterten zu regulären Balkons, an wichtigtuenden Gebäuden von schweren Steinnasen gestützt, Sitz der Provinzregierung, Magistrat, mit verdrehten, windzerzausten Fahnen überm Portal, nebenbei nannte Florencio meinen Namen, für später, er, der mir einiges erzählt hatte, die augenblickliche Lage geschildert, nach Jahrzehnten des Jochs, Garrotte und so weiter, das sei der brutalste Tod, den man sich ausdenken kann, mit einer Eisenschraube die Leute zu ersticken, um was es sich prinzipiell handelte, die Unruhe dürfe nicht einschlafen, müsse wachgehalten werden, klar, ein Verstehen ohne große Worte, radebrechend, nie sehr weit von dem Platz im Zentrum entfernt, den man immer wieder im Hintergrund sah, am Ende einer Straße, diesen Musikpavillon auf seinem runden, bossierten Sockel, beständig dieselben zwei oder drei Blocks abschreitend, mit plötzlichen Richtungswechseln, zurück, Weinhandlung Madrazo, Idigoras: Töpfe und Geschirr, der Schlauch einer von nackten Glühbirnen erleuchteten Kneipe, Zeitungsbuden und Restaurants, sich durchs Gedränge schiebende Autos – auf der begrenzten Fläche eines Tafelbergs, eines sich wundersam erhebenden Plateaus, das wie aus dem Erdboden gespachtelt jedem Reisenden erscheint, die Zackenlinie der Dächer und Kirchtürme, unbewegt am Horizont über einer im Dunst verschwimmenden Ebene.
Nachdem sie zweispurig geworden war, führte die Fernstraße durch einen Gürtel von Neubauten, schmucklose Häuser, zwischen denen Abraum lag, eine spärlich mit wildem Gras bewachsene Hügellandschaft, die Trampelpfade in Schlangenlinien musterten, zum Teil auch erst Betongerippe, die noch keine Wände oder Dächer hatten, nur die rohe Form zukünftiger Wohnstätten, von ein paar schlanken Pfeilern zusammen- und aufrecht gehalten, neben der Fahrbahn glitzerten Rinnsaale, als es den Berg hochging, ein steiler Abschnitt in engen Kurven, bis das Niveau der eigentlichen, der alten Stadt erreicht war, vorbei an nicht sehr großen, staubbeschlagenen Fabrikhallen, mit solchen Oberlichtern wie Sägezähne, als schnappten sie nach Luft, nach der Helligkeit draußen, weiter hinein in den sich verdichtenden Verkehr, Straßennamen entziffernd, Schilder lesend, wo sich hier die üblichen Sehenswürdigkeiten befinden, Festung, Kathedrale, Arena.
Florencio hatte mir einen Plan geschickt, auf dem der Weg, den ich nehmen mußte, gut sichtbar eingezeichnet war, zu dem Zimmer, das er als Untermieter bei einem verwitweten, halb tauben Mann bewohnte, einem ehemaligen Lehrer, der sich, von der pünktlichen Zahlung an jedem Monatsersten abgesehen, um nichts sonst kümmerte, wer aus und ein ging, oder welche Fortschritte das Studium machte, diese Schnüffelei anderer Vermieter, die einem den letzten Nerv raubten, ärger als zu Hause, weswegen man ja fort war, der Ermahnungen und Warnungen und Kontrollen überdrüssig, der Enge des Vertrauten, die von Tag zu Tag mehr einschnürte, näherrückte wie die Wände in einer Erzählung Kafkas, trichterförmige Sackgasse, aus der es kein Entrinnen gab, wenn man nicht beizeiten umkehrte, auch politisch, um nicht zu enden wie, hörte ich den Freund berichten, Florencios Vater, der sich in Abendkursen hochgearbeitet hatte zum Buchhalter einer Fischereigenossenschaft, mit eigenem Büro jetzt, auf das er stolz war, ein lachhafter, selbstgenügsamer Stolz, der von der Geschichte lediglich wissen will, was in seiner Reichweite liegt, worin er sich spiegelt, beruflicher Erfolg und Gehorsam der Kinder, aber bestimmt nichts darüber hinaus, sich ängstlich an das Erreichte klammernd, ohne jemals einen einzigen Gedanken zu verschwenden, ob das Leben mehr zu bieten haben könnte als eine Eigentumswohnung und Ferien in den Bergen anstatt am Meer vor der Haustür, Teilchen einer Maschinerie, die nicht zu beeinflussen war wie das Wetter falsch, nicht das Wetter, keine Jahreszeiten der Konjunktur, wie ein steter natürlicher Kreislauf, der sich dreht und dreht und alles zermalmt, was ihm in die Quere kommt, wer es riskiert, seine Bahn zu verstellen, oder ihn anzuhalten versucht, Spinner, Tagediebe, Komödianten, vom Staat beäugt und bewacht, vielmehr ein mitreißender Warenstrom, der so plötzlich hervorsprudelt, wie er im Sand verläuft, verrinnt, da bleibt eine Steppe leergeträumter Dinge zurück, und wieder von vorne, auf Tastendruck es war ein Foto, das dem Unfall, der abstrakten Meldung, ein Gesicht gab, ein Kindergesicht, von entzündeten Pusteln übersät und aufgequollen, als stünde die Haut unter Druck, wie die Oberfläche eines Planeten, dachte ich, der Schnappschuß einer Raumsonde aus dem Weltall, nicht zu erkennen, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelte, ungefähr zehn Jahre alt, die unsichtbare Wolke hatte es beim Spielen überrascht, auf dem Schulweg, im Bett, angereichert mit den Stoffen, die durch die Explosion freigesetzt worden waren, in einem Wirrwarr von Kesseln und Röhren zusammengebraut, solange es gutging, und ohne einen Gedanken an die Sicherheit zu verschwenden, die hatten ihre Bilanzen im Kopf, ein tabellarisches, börsentaugliches Zahlenspiel, in dem sich das Wirkliche als Kostenfaktor versteckt hielt, praktisch fürs Leben entstellt, was noch kommen würde, Aufenthalte in Krankenhäusern und Sanatorien, Hauttransplantationen, detailreich beschrieben in Sondersendungen und Zeitungsartikeln, neben schematischen Zeichnungen der mit einem Blitz lokalisierten Stelle, wo sich der Irrtum, ein fälschlich geöffnetes Ventil oder so, ereignet hatte, bevor ungünstiger Wind das Zeug Richtung Siedlung trieb, auf Seveso zu, eine Schneise aus Gift ins Juligrün schlagend, das kann man nicht hinnehmen, war unsere damalige Meinung, dafür werden sie ihren Preis bezahlen müssen, jeder, weil sonst doch alles am Ende wäre.

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Geboren am 09. Dezember 1956 in Krefeld. Nach dem Abitur Studium der Psychologie und Philosophie in Berlin.

2001: Niederrheinischer Literaturpreis der Stadt Krefeld
2000: Preis der SWR-Bestenliste
1997: Anna-Seghers-Preis
1996: Berliner Literaturpreis
1992: Bertelsmann-Stipendium (für: Stefan Martinez) beim Ingeborg-Bachmann-Preis

Bryant Park. Erzählung. Ammann: Zürich 2002.
Alle oder keiner. Roman. Ammann: Zürich 1999 (TB-Ausgabe Suhrkamp: Frankfurt/M. 2002).
Stefan Martinez. Roman. Ammann: Zürich 1995 (TB-Ausgabe dtv: München 1997).
Die Sünden der Faulheit. Roman. Ammann: Zürich 1987 (TB-Ausgabe dtv: München 1991).

(In Auswahl:)
Versuche, die Zeichen der Stadt zu lesen. Gespräch. In: Neue Gesellschaft - Frankfurter Hefte 47/2000.
In: Sprache im technischen Zeitalter, Heft 151 (Thema: 10 Jahre danach), Oktober 1999.
In: Sprache im technischen Zeitalter, Heft 149 (Thema: Theatertendenzen), April 1999.

Auskunft Autor, Eigenrecherche

Aktualisiert 04.07.2021